Archiv für den Monat Januar 2010

Wissend und zornig

Peter Scholl-Latour. Die Angst des weißen Mannes. Ein Abgesang

Peter Scholl-Latour ist zweifelsohne einer der ausgewiesensten Kenner der internationalen Politik. Seit über einem halben Jahrhundert bereist er die Schauplätze der Weltkrisen, hat Kriege begleitet und Katastrophen analysiert. Seine Schwerpunkte bildeten Indochina und die islamische Welt und die machtpolitischen Querverbindungen dieser Konfliktherde brachten ihn immer wieder in Regionen, deren Existenz den meisten Empfängern seiner Analysen zuvor kaum bekannt war. Sein internationales Netzwerk geht über die gängigen Verbindungen der offiziellen Diplomatie weit hinaus und seine Botschaften waren immer dazu geeignet, heftige Dispute auszulösen. Sie passen schlichtweg nicht in das oft ersehnte Schema von Gut und Böse, den einen galt er oft als hoffnungsloser Reaktionär und anderen wiederum als allwissende Kassandra. Im Alter von 84 Jahren unternahm er erneut eine weltumspannende Reise und stellte sie unter die Leitfrage, inwieweit die Zeit des weißen Mannes mit seinen Imperien und seinen kulturell hegemonialen Einflüssen, die über Portugal, Spanien, die Niederlande, Frankreich, Großbritannien bis zu den USA gingen, zur Neige geht.

Angelehnt an den portugiesischen Dichter Luís Vaz de Camóes, der den Niedergang der lusitanischen Epoche begleitete, teilt er seine Reise in acht Cantos auf, die seine Reisestationen untergliedern. Scholl-Latour beginnt seine Erkundung in Ost-Timor und sie geht über Bali, Ozeanien, Java, die Philippinen, China und Kasachstan bis nach Kirgistan, wo sie endet. Wie in allen publizierten Berichten arbeitet er auch hier mit Querverweisen, die teils Jahrzehnte zurückgreifen und seinem schier unerschöpflichen Fundus an historischen Aufzeichnungen entspringen. Wer sich einlässt auf diese Art der assoziativen und historisch interpolierenden Analyse, die durch Fakten wie durch persönliche Erlebnisse durchsetzt ist, der wird reich belohnt.

Die einst strahlende imperiale Größe eines Kulturkreises, der seit Alexander dem Großen und dem Imperium Romanum, über die Seefahrernationen bis zur Neuen Welt in Form der USA den Globus beherrschte, hat sich laut Scholl-Latour verflüchtigt mit der jeweiligen Profanisierung der Eliten und Ideale. Die weltweite technische Reproduzierbarkeit der Instrumente und Verfahren haben das ihre dazu beigetragen, dass die unikate Qualität der imperialen Zentren ausfaserte und ihre Aura verlor. Mit der Degeneration der hegemonialen Eliten ging nicht selten die Emanzipation der peripheren Nationen einher und es wuchsen neue Zentren politischer Dominanz, die in kurzer Zeit auf der Weltbühne erschienen und für Verblüffung sorgten. Scholl-Latours Zorn richtet sich gegen den intellektuellen Müßiggang derer, die in der westlichen Hemisphäre das Sagen haben und er verfällt zuweilen in jene Melancholie, die ein Abgesang mit sich bringt. Die Stärke des Buches liegt – wie immer – in der unerschöpflichen, nahezu enzyklopädischen Reichhaltigkeit von Verweisen auf geopolitische Interdependenzen. Seine Kritik an der Profanisierung westlicher Politik ist nicht neu, sie dokumentiert allerdings auch ihr fürchterliches Ausmaß angesichts der globalen Machtverschiebungen.

Empedokles und die Balance des Lebens

In Agrigent, auf dem heutigen Sizilien, einem der Zentren der antiken neuen Welt, siedelten sich die Griechen an, denen das Mutterland zu rigide und entwicklungsarm geworden war. Hier, an der neuen Küste, versuchten sie ihre Lebensentwürfe auszuleben und schufen Großes. Das hinderte sie, die Exilanten, nicht daran, das Hier und Jetzt zu würdigen. Im Gegensatz zur modernen Spezies Mensch lieferte die Antike ein freundlicheres Lebenskonzept. Es bejahte das Diesseits mit den sensuellen Genüssen und mahnte, dennoch im Stadium der prognostizierten Sterblichkeit etwas für das Jenseits zu tun. So herrschte in Agrigent ein Volk, das wusste zu leben und dennoch große wirtschaftliche, philosophische und architektonische Werte der Nachwelt hinterließ. Empedokles, der führende Kopf dieser Zeitgenossen, charakterisierte die Agrigenter auf seine ihm eigene, unnachahmliche Weise: „Sie bauen, als wollten sie ewig leben und sie essen, als müssten sie morgen sterben.“

Das geschilderte Lebenskonzept beinhaltet einen Charme, der trotz aller verfügbaren, marktgerechten Life-Balance-Pakete unserer Tage alles überstrahlt. Der Versuch des modernen Menschen, sich in einem quasi trans-existenziellen Modell zu positionieren, scheitert an der Dominanz der jeweils verfügbaren Hälften. Auf der einen Seite sind die monotheistischen Religionen, die monomanischen Ideologien oder die monokausalen Welterklärungen, die in den Supermärkten der Erklärungsindustrie feilgeboten werden, nicht dazu geeignet, das Individuum in einen selbstbewussten, größeren Kontext zu stellen. Andererseits hat die Dekonstruktion des Informationszeitalters dazu geführt, große existenzielle Entwürfe durch profane, kurzatmige Episodenhaftigkeit zu ersetzen. Das hat nicht nur zur Desorientierung der Menschen geführt, sondern ihnen auch das Glück genommen. Das Streben nach einem neuen Sinn, der sich aus der Duplizität von Diesseits und Jenseits definiert, ist enorm und gehört zum Doppelcharakter der Ersatzreligionen unserer Tage. Indem wir nach diesen Konzepten suchen, protestieren wir gegen das reale Sein, indem wir uns in das Jenseitige zu flüchten suchen, unterstützen wir den Bestand der Verhältnisse, die wir zu überwinden suchen.

So wie es scheint, sind die glücklichen Zeiten der Menschheit längst überwunden. Es hieße jedoch zu resignieren, sich diesem Schicksal unwidersprochen zu fügen. Das geniale der Geschichte besteht in ihrer semantischen Asymmetrie, die letztendlich dazu einlädt, durch einen kleinen Anstoß der Entwicklung eine ganz neue Richtung geben zu können. Die Voraussetzung für den Versuch des Unmöglichen ist immer die Existenz bewusst handelnder Subjekte, die ein Bild, eine Vision davon haben, was sie erreichen wollen. Eine Perspektive zu haben erleichtert den Umgang mit der Bipolarität des Daseins, der ständigen Spannung zwischen einer Konzeption, die die eigene Lebenszeit überdauert und dem Wunsch, die aktuelle Stunde dem Genuss zu widmen. Doch auf diesem Weg erwächst die Lust nach Verantwortung, und sie wahrzunehmen bedeutet, das Unmögliche zu vollbringen. Es geht um eine Art genüssliche Vision, die jenseits der Verantwortung nicht vorstellbar ist. Man könnte es auch eine empedokledische Ruhe nennen.

Zwingende Hinweise aus der historischen Wissenschaft

Ralph Bollmann, Lob des Imperiums. Der Untergang Roms und die Zukunft des Westens

Fragen, die uns heute so beschäftigen, werden nicht selten als noch nie dagewesen begriffen. Das war zu allen Zeiten so. Das Charakteristikum unserer Zeit scheint jedoch zu sein, in einer übertechnisierten Welt die Themen unseres Daseins mit einer Arroganz zu formulieren, die zu nichts führt. Die lange gepflegte Exklusion der historischen Wissenschaften, um die Fragen unseres Daseins aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Epochen neu zu beleuchten, hat nicht weiter geführt. Die einzige Konstante in der lange gepflegten Ignoranz gegenüber der Historiographie scheint in einer positivistischen Diffusion zu liegen, die nutzbringende Erkenntnisse regelrecht unterdrückt. Zumeist kommen die Heilslehren des Informationszeitalters einer Verballhornung des Hegelschen Satzes gleich, das alles, was ist, auch vernünftig ist. Selbstverständlich ohne den Hinweis auf dessen Schulgeheimnis. Ralph Bollmann hat mit seinem Buch Lob des Imperiums, das 2006 erschien, eine Seite aufgeschlagen, die den Umgang mit Kernfragen wie Geburtenrückgang, Integrationsproblemen und Terrorgefahr aus einer neuen Perspektive erleichtert.

Dabei dient ihm das Imperium Romanum als Folie, auf der er Entwicklungen nachzeichnet, die uns allen bekannt vorkommen. Angefangen von Fragen der strategischen Überdehnung, dem Umgang mit dem Barbaricum, der Demographie im imperialen Kernland bei steigendem Zivilisationsgrad, dem Umgang mit den Migranten bis hin zum Walten der Bürokratie und der Handhabung religiöser Toleranz hat Rom als Studie vieles zu bieten. Interessant ist Bollmanns Parallelisierung zum heutigen Westen und seinem hegemonialen Imperium. Die Aufklärung findet statt in der Interpretation Roms, das sich als nicht homogenes, aber ökonomisch-kulturelles Hegemonialkonstrukt erweist und damit mit dem heutigen Westen korrespondiert. Nicht jede der heute als Endzeitfrage stilisierten Kernprobleme hat zum Untergang des Imperium Romanum geführt und so manche hier diskutierte Lösung dieser Probleme hat nicht die Intelligenz und den Charme der römischen Variante.

Der Geburtenrückgang in Rom bezog sich auf die privilegierten Bürger, und nicht auf die Gesamtbevölkerung im Hegemonialbereich, Integration fand schlicht und effektiv mit dem individuellen Aufstieg der Menschen aus dem Barbaricum innerhalb der römischen Hierarchie statt und die Terrorgefahr entstand aus dem Aufbegehren der Peripherie, in der die imperiale Infrastruktur nicht ausgebildet war. Als Pendant zu Liberalismus und Toleranz fungierte ausgleichend eine unbestechliche und rigide Bürokratie, die generalisierte und nicht den Einzelfall als Maßstab zuließ. Das sind Blickwinkel, die in hohem Maße helfen könnten, mit mehr Gelassenheit und einer weiteren Perspektive die Gegenwart zu betrachten. Dass das Christentum als monotheistische Religion das Imperium Romanum letztendlich geliefert hat, auch das ist eine Überlegung in unseren Tagen wert.