Archiv für den Monat April 2024

Politik: Kojoten, die kreischend auf die Tische pinkeln

Gestern war wieder so ein Tag. Da tauchen abends, zur besten Sendezeit, die Bewohner der Geisterbahn auf und brüllen, verborgen hinter schrecklichen Masken, ihr Kriegsgeschrei in die Mikrophone. Einhalt bekommen sie nicht geboten. Nein, sie werden präsentiert wie gesellschaftsfähige Exemplare einer heilen Welt. Das ist skurril, das ist pervers. Diese Geisterbahnbewohner präsentieren nun nach zwei Jahren eine Waffengattung nach der anderen, die angeblich den Krieg in der Ukraine durch einen Sieg über Russland bewerkstelligen sollen. Und das, was sie bewirken, ist nicht nur die Eliminierung der Zukunft beider Länder, was nebenbei auch zum Plan gehört, sondern sie verschrotten ihren alten Tötungsmüll im Echtbetrieb. 

Die Kriege der Zukunft, wenn es wirklich um die Dominanz geht, werden anders aussehen. Da rollen dann keine putzigen Panzer durch die Landschaft, sondern da gibt es keinen Strom mehr, die Logistik bricht zusammen, das Trinkwasser geht aus und die Nahrungsketten werden unterbrochen. Und dann, das wissen auch die finsteren Auftraggeber des militärisch-industriellen Komplexes, werden die post-heroischen Gesellschaften das Nachsehen haben. Die Russen sagen heute schon, Kartoffeln und Äpfel hätten sie immer, und die Chinesen machen es mit einer Schüssel Reis. Wie es hier, im elaborierten Westen, mit massenhaft verbreiteten Unverträglichkeiten und Intoleranzen aussieht, kann man sich leicht vorstellen. Dieser Krieg ist bereits verloren, bevor er richtig begonnen hat. 

Wenn die Schranzen, die uns täglich als politisches Fachpersonal präsentiert werden, tatsächlich diejenigen wären, die über Krieg und Frieden entscheiden, dann wäre auch dieses Spiel längst aus. Sie selbst schaffen es nicht bis zum nächsten Graben, und ohne ihre mächtigen Souffleure ginge ihnen schnell der Text aus. Die Antworten, die sie verdienen, sind bereits formuliert und werden bald kommen. Denn wenn das Gros der Bevölkerung davon ausginge, dass diese Schreckgespenster tatsächlich die Herren und Kriegsgöttinnen über ihr Schicksal sind, dann wäre bereits das zu verspüren, was Gesellschaften immer kurz vor ihrem Untergang an den Tag gelegt haben. 

Dann herrschte die allgemeine Zügellosigkeit und Libertinage. Dann würde auf den Straßen längst kopuliert und aus den Fenstern gekotzt. Dann wäre der Rausch der standardisierte Zustand, dann wären die Geschäftsprozesse längst beendet und die Verwahrlosung griffe um sich. Dann sähen alle bereits so aus, wie die uns in unerträglicher Intensität präsentierten Horrorgestalten. Frei von Zivilisation und Humanität, geprägt durch Blutrünstigkeit, Gier und Rücksichtslosigkeit.  

Wer das nicht glaubt, der gehe auf den Rummel, die Mess, die Kirmes oder den Send und setze sich in eine Geisterbahn. Das, was da an den Ecken steht und eigenartige Geräusche abgibt, wirkt nämlich bereits wie das Ensemble dieser Polit-Talkshows, wo die Kojoten  des Krieges unter freundlicher Begleitung der Moderatoren kreischend auf die Tische pinkeln. Und doch: es scheint noch nicht so weit zu sein. Zu viele Menschen, die einem begegnen, gehen noch einer vernünftigen Tätigkeit nach, haben noch soviel Selbstachtung, dass sie auf sich achten und wissen, wie man sich in der Öffentlichkeit zu benehmen hat. Die Zeit der vulgären Libertinage herrscht bislang noch nur in Teilen der politischen Klasse. Das ist der Funke, mit dem die Hoffnung in Verbindung gebracht werden kann. 

Über die mentale Krise individualistisch ausgerichteter Gesellschaften

Die mentale Krise der extrem individualistisch ausgerichteten Gesellschaften ist offensichtlich. Auf der Wunsch- wie auf der Angebotsseite ist das Bild skurril: Menschen, die nicht ihr Bedürfnis 1:1 behandelt sehen, tendieren dazu, sich komplett zu verweigern. Und die Bestellung eines Produktes mit den entsprechenden individuellen Spezifikationen artet zu regelrechten Biointerviews aus. Das Konsumverhalten führt, zumindest in bestimmten Segmenten, dazu, dass der Stoff für eine gesellschaftliche Diskussion ausgeht. Worüber sich noch unterhalten, wenn jeder sich in seiner sublimierten Blase befindet? Und, wo keine Gemeinschaft, da ist auch kein Konsens mehr darüber, ob es sich lohnt, sich für das Gemeinsame einzusetzen. Ja, der Verlust der Gemeinschaft und der Psychoritt in den Individualismus hat zum Massenphänomen des Post-Heroismus geführt. 

Henry Kissinger pflegte häufig sein Erlebnis mit dem damaligen Außenminister der Volksrepublik China, Zhou Enlai, zu erzählen. Bei ihrem ersten Treffen fragte Kissinger Zhou, von dem er selbstverständlich wusste, dass er sich zu Studienzwecken in Frankreich, England, Belgien und Deutschland aufgehalten hatte und sich in der neueren europäischen Geschichte auskannte, was er von dem Projekt der bürgerlichen Revolution und seinem Konzept des Individualismus halte. Zhou blickte Kissinger irritiert an und antwortete, das könne man doch beim besten Willen nicht sagen, die Französische Revolution sei doch gerade einmal 200 Jahre alt. 

Das Ganze spielte sich vor ziemlich genau 50 Jahren ab und zeigt, wie sehr die Zeiten sich wandeln. Die Frage wäre, hätten wir die Gelegenheit gehabt, vor 50 Jahren wesentlich wohlwollender in Bezug auf das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft beantwortet worden als heute. Dazwischen liegen unter anderem dreißig Jahre des Wirtschaftsliberalismus, der den Individualismus wie eine Turbine beschleunigt und die auf Grundlage der individuellen Freiheiten gegründeten Gesellschaften in ein mentales Prekariat geführt hat. 

Trotz aller Polarisierung, vor allem gegenüber offen autoritären oder oder auch kulturell kollektivistischen Gesellschaften, werden vor allem die imperialistischen Staaten, die aus einem wohl verstandenen Individualismus eine Raubtierphilosophie geformt haben, ihrerseits, betrachtet man ihre innere Befindlichkeit, zunehmend autoritärer und totalitärer. Der Blick von außen, aus der Ferne, führt zu dem Urteil, dass das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft, welches seine Prinzipien in der Französischen Revolution in Stein gemeißelt hat, sich in der heißen Phase des Scheiterns befindet. Unveräußerliche Rechte werden nach Bedarf interpretiert oder sogar annulliert und der Staat argumentiert auf seinem Weg in der Autoritarismus diese Notwendigkeit mit der Verteidigung der Demokratie. Übrigens der größte Irrtum in der Verteidigung demokratischer Rechte, auf den bereits Benjamin Franklin hingewiesen hatte, als er noch in Paris weilte und im noch monarchistischen Frankreich für Waffenlieferungen für den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Englische Krone warb.

So fliegt der Kot historischer Vergehen gegen die Prinzipien der Freiheit und die unverbrüchlichen Rechte, die mit ihr einhergehen, bis in die Gegenwart. Und wir, als Leidtragende wie Zeugen, dürfen uns nicht dem Irrglauben hingeben, dass die Prinzipien, um die es dabei geht, die falschen sind. Eine Flucht in die Autokratie ist mit Abstand der dümmste Schluss, der aus der Krise des beschleunigten und hoch gekoksten Individualismus gezogen werden kann, auch wenn die vermeintlichen Verfechter der Demokratie sich bereits auf diesem Weg befinden. Da einen klaren Kopf behalten, fällt in der Tat schwer. Die Freiheit des Individuums ist eine Voraussetzung einer freien Gesellschaft. Die bleibt aber nur solange frei, sie die Einsicht in das unabdingbar Gemeinsame bewahrt werden kann. 

Überlebensstrategie: ein Leben ohne Staat und Medien?

In Ländern, in denen Autokraten herrschten, die durchdrungen waren von Korruption oder die schlicht in ihrer Fähigkeit, Gesellschaft zu organisieren, überfordert wirkten, fiel mir auf, dass es keinen politischen Diskurs mehr gab. Fragte ich die Leute, was sie von dieser oder jener politisch relevanten Frage hielten, winkten sie nur gelangweilt ab und sagten, es sei müßig, darüber zu diskutieren, weil jede Form der tatsächlichen Teilhabe eine Illusion sei. Und hörte ich mir die Radiosendungen an oder schaltete im Hotel das Fernsehen ein, dann schlug mir ein unterirdisches, von Werbung durchdrungenes Programm entgegen, das an Trivialität nicht zu überbieten war. Und wenn ich die Menschen darauf ansprach, winkten sie ebenso ab.

Das zunächst und zumindest für mich Erstaunliche war immer, dass die meisten Menschen, auf die ich traf, einen qualifizierten Beruf hatten und ihrerseits das Beste gaben, dass sie trotz widriger Umstände aktiv und kreativ waren. Sie hatten zu allen Fragen des Lebens zumeist eine qualifizierte Meinung und sie bewegten sich in Zusammenhängen, die außerhalb der staatlichen Reichweite waren und in denen so gelebt und kommuniziert wurde, dass man nicht auf die Idee hätte kommen können, sich in einem autoritären, korrupten oder überforderten Staat zu befinden. Vieles funktionierte, hatte Qualität und war durchaus attraktiv, nur ohne Staat. 

Natürlich existierten rote Linien. Sowohl für die einzelnen Individuen wie die nicht staatlichen Sub-Systeme. Wenn sie sich gegen die große Kontrolle des Staates richteten, dann schlug der unerbittlich zurück und wenn es um Krieg und Frieden ging, dann waren alle in der Pflicht. Ansonsten jedoch lebte der Großteil der Gesellschaft ein Leben, das sich der staatlichen Kontrolle und Aufsicht entzog.

Wir haben hier, in unserem Land,  Zeiten hinter uns, in denen es einen durchaus intensiven öffentlichen Diskurs um die politischen Belange der Gesellschaft gab. Und in denen eben dieser Diskurs zumindest in einem Teil der Presse, in Funk und Fernsehen reproduziert wurde und zu einer größeren Durchdringung der Gesellschaft mit den Pros und Contras beitrug. Diese kommunikative Kultur ist seit dem Ende des Kalten Krieges mehr und mehr verschwunden. Mit dem Ende der Systemkonkurrenz verschied der Anspruch auf eine gelebte Demokratie. Und mit den folgenden Jahren des Wirtschaftsliberalismus und Neokonservatismus blieb alles auf der Strecke, was als institutioneller Widerspruch gegen die uneingeschränkte Herrschaft von immer mächtiger werdenden Finanzmonopolen stand. Beschleunigt wurde dieser Prozess der Zerstörung eines öffentlichen Diskurses, in dem zumindest die unterschiedlichen Positionen gehört wurden, durch das gouvernementale Verhalten bei der Corona-Krise und, noch einmal gesteigert, seit dem Krieg in der Ukraine.

Nicht an manchen, sondern an vielen Tagen fühle ich mich in eine Zeitmaschine versetzt und ich reise wieder in eines der vielen Länder, in denen Autokraten herrschen, die unter weit verbreiteter Korruption leiden oder die schlicht überfordert sind und die das Publikum mit miserabler Qualität beschallt und in denen der Großteil der Gesellschaft den Staat und die Reklame-Micky-Mouse-Sender ausblendet und sein Ding macht. Nur muss ich mich physisch nicht wegbewegen. Eine von mir immer als weit entfernt eingeschätzte Realität ist zunehmend zu meiner eigenen geworden. Sie vermittelt allerdings den Trost, dass vieles ohne Staat und Medien sehr gut geht. Ein Leben ohne Staat und Medien als Überlebensstrategie. Das scheinen viele Menschen zur Zeit zu begreifen. Nur ist auch diese Nische verödetet, wenn es zum Krieg kommt.