Archiv für den Monat Oktober 2012

Der Zauber des Derbys schlechthin

Der Stellenwert von Fußballderbys wie des Fußballs insgesamt wird von politisch interessierter Seit seit Jahren in diesem Land in Frage gestellt. Ohne Erfolg. Auch die aktive Umgestaltung des Images derer, die sich in den Arenen bewegen, von ehemals arroganten Siegertypen, wie eine spanische Zeitung über die erfolgreichen deutschen Fußballer schrieb, zu sympathischen Verlierertypen, hat sich durch sportliche Misserfolge nicht als geeignet erwiesen, die letzte Männerdomäne zu schleifen. So wie es scheint, sind die Zeiten der Jogis, Hansis, Schweinis und Poldis vorbei. Doch das, wenn überhaupt, nur als Randnotiz.

Das Derby in Deutschland überhaupt ist die Begegnung zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04. Im Ruhrgebiet selbst läuft schon Wochen vorher der Countdown. Ein wie überall in der Republik durchaus breit angelegtes Gesprächsangebot reduziert sich an den Theken zwischen Rhein und Ruhr, zwischen holländischer Grenze und Siegerland zunehmend, es wird monothematisch. Mögliche Mannschaftsaufstellungen und Spieltaktiken werden diskutiert, alte Ressentiments zwischen den Lagern aktiviert und es wird alles getan, um die Emotionen hoch zu peitschen. Vielen, aber das wissen alle, ist ein Sieg über den Rivalen wichtiger als Meisterschaft oder Pokal. Und wenn eins schmerzt, dann ist es die Bezeichnung Nummer Eins im Revier.

Treffen die beiden Mannschaften dann aufeinander, wie gestern, zum 141. Mal, dann muss niemand mehr etwas tun, um die Adrenalinspiegel zu steigern, sondern die Verantwortlichen beginnen, zumindest in den letzten Jahren, der Strategie der De-eskalation zu folgen, um das Schlimmste zu verhindern. Und wenn, nach den Schlachtgesängen und Ritualen der Anpfiff erfolgt ist, dann sieht man in der Regel ein ganz gewöhnliches Fußballspiel, das mal die eine, mal die andere Mannschaft gewinnt. Gestern war es Schalke, verdient, aber beim nächsten Mal kann alles wieder ganz anders sein.

Was auffällt, hinter den Kulissen, ist der große Sachverstand und Respekt, der vorherrscht und der das ist, was eine wahre Rivalität ausmacht. Es ist das Wissen um die Notwendigkeit eines Rivalen, dessen Dominanz man nie und nimmer will, dessen dauerhafte Schwäche aber das Geschäft verdirbt. Und es ist das Wissen um die Ähnlichkeit. Beide Vereine, Schalke wie Dortmund, sind mit Kohle und Stahl groß geworden, auch wenn der Dortmunder Anhang immer industriell-proletarischer war als der Schalkes, da kamen immer noch die Bauern aus dem Münsterland dazu. Dortmund war immer eine Bastion polnischer Immigranten, Schalke die der Ostpreußen und Niederländer. Aber das sind Feinheiten, vergleicht man beide Clubs mit anderen der Republik, dann sind sie dem selben Schoß entschlüpft, und das macht, wie in den besten Familien, die Rivalität so einzigartig.

Wer einmal in Dortmund bei einem solchen Spektakel war und die Münchner Arena erlebt hat, dem wird klar, worin der Unterschied zwischen denen, die den Fußball in unseren Breitengraden populär gemacht haben und denen, die damit Prestige zu erreichen suchten, besteht. Mögen die Söldnerensembles an der Isar auch noch so erfolgreich sein, den Geist, die Seelenkraft und das Klassenbewusstsein, das der Fußball im Ruhrgebiet bis heute hervorbringt, werden sie nie erreichen, genauso wie ihrem Anhang es immer verschlossen bleibt, was es bedeutet, im Wettstreit zu liegen, zu kämpfen, und dennoch so etwas wie Respekt und Fairness zu bewahren. Man wird es ihnen erklären können, aber als Reaktion bleibt immer nur der leere Blick.

Gestern, beim 1:2 für Schalke, vor über 80.000, ging es wieder hart zur Sache, und danach werden die Wunden wieder geleckt. Und hinterher, beim Pils unter Gleichen, kam es zu tiefen Einsichten, bodenständig, ehrlich, so wie es den Zauber dieser Region ausmacht.

Dissens und Demokratie

Der Zustand von Demokratien lässt sich sehr gut ablesen an der Art und Weise, wie mit dem Dissens umgegangen wird. Wenn es möglich ist, eine abweichende Meinung zu äußern, ohne sogleich diskreditiert zu werden, wenn man in der Lage ist, sich gegenseitig zuzuhören, wenn die unterschiedlichen Auffassungen unvermindert und ungefiltert aufeinander stoßen und in aller Härte ausgefochten werden können, ohne dass darunter der Respekt und das spätere, erneute Zusammenleben nicht ein für alle Mal verhindert wird, dann herrschen Zustände, die sehr wohl als lebendige Demokratie bezeichnet werden können.

Gesellschaften, die in der Lage sind, kultiviert und zivilisiert mit ihrem Dissens umzugehen, gehören eher zu den seltenen Fällen. Sie sind in der Regel Glücksfälle oder sie haben einen langen, argen Weg der Erkenntnis hinter sich. Denn es besteht ein großer Unterschied zwischen einem verfassungsmäßig verbrieften Recht, seine Meinung frei und ungehindert äußern zu können und der Fähigkeit der in dieser Gesellschaft lebenden Individuen, mit abweichenden Meinungen, gegensätzlichen Standpunkten und gravierend unterschiedlichen Interessen auch umgehen zu können. Dazu gehört ein hoher Grad an kognitiver Potenz, sozialer Kompetenz und emotionaler Reife. Alles Qualitäten, die in einem Jahrhunderte währenden Prozess der Aufklärung gereift sind. Neben allem, was mit Rechten und Gerechtigkeit zu tun hat, wird die letzte Schicht, die zu einer wahrhaften demokratischen Qualität gereicht, durch Dimensionen wie Geduld und Demut geprägt.

Gestatten wir uns den Schwenk auf unsere vorherrschende Alltagsprofanität, so sehen wir gleich, mit welchen Problemen wir zu kämpfen haben, wenn wir uns über den Begriff und den Zustand unserer Demokratie unterhalten. Der Dissens wird nahezu systematisch vermieden. In einer Art kollektiver Starre, oder, wie manche Zyniker gar nicht so unzutreffend formulieren würden, nach dem System des Sozial-Mikados wird so lange gewartet, bis der erste Akteur einen Zug macht, um dann im kollektiven Wolfsgeheul, emotional überladen und unreflektiert über das Opfer der eigenen Courage herzufallen. Da toben sich Kohorten aus, die von ihrem Bewusstseinsstand und ihrem Sozialverhalten nicht einmal die Schwelle ins Mittelalter geschafft hätten, jedoch begleitet von einer moralisch selbst inthronisierten Majorität, die dem tobenden Mob permanent signalisiert, auf der richtigen Seite zu stehen.

Und es geht in jedem Fall darum, diejenigen, die den Anlass zum Dissens geben, in ihrem Wesen zu vernichten und für alle Zeiten untragbar zu machen. Das hat Methode und herrscht in nahezu allen Subkulturen, die die verfasste Demokratie vorsieht: Auf den Regierungsbänken, in den Institutionen, bei den Medien und im Volk selbst. Emotional und zivilisatorisch vor-aufklärerisch, sind sie, kalten Auges betrachtet, ein Indiz für die katastrophale Befindlichkeit der Demokratie. Die Hetzjagd auf den Dissens, die Vergötterung des Mediokren und Ignoranz gegenüber dem Anderssein zeugen von einer auf der ganzen Linie post-totalitären Tradition, die es in sich hat.

Das Aberwitzige an diesem Konstrukt ist das formale Reklamieren des Gegenteils: Nie wurde mehr der Begriff der Gerechtigkeit bemüht, nie mehr der Toleranz die Lanze gebrochen und nie mehr das Bekenntnis zu Diversität gegeben. Und nie herrschte so unverblümt der Egoismus, nie wurde das Andersartige so gemeuchelt und nie erschien das Herrschende so Monolithisch. Von der Demokratie sind wir weit entfernt. Der eklatante Widerspruch von Schein und Sein hingegen ist der beste Vorbote für ein neues, anti-zivilisatorisches Bacchanal.

Ein zerbombtes Belgrad und das Modell der Schuldknechtschaft

Die Reaktionen auf den Friedensnobelpreis für die Europäische Union waren überschwänglich. Zumindest hier in Deutschland. Da standen Veteranen der Brüsseler Berichterstattung den Tränen nahe vor laufenden Kameras und berichteten aus den Zeiten, als es noch Grenzkontrollen gab und man die Rotweinkisten im Kofferraum öffnen musste. Und man führte an, dass aus der nahezu siebzigjährigen Nachkriegsgeschichte keine inner-europäischen Kriege zu verzeichnen seien. Und dass es vorwärts ginge, über eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung. Da ist, mit Verlaub gesagt, gehörig Verdrängung im Spiel und bei aller Euphorie über die verfallenden Wachhäuser an den Grenzen seien Gedanken erlaubt, die zur Beunruhigung beitragen müssen.

Im Grunde sind es zwei Ereignisse, die in Europa für Furore sorgen müssen, wenn über den Sinn der Europäischen Union räsoniert wird. Das eine ist die Zerschlagung und Neuaufteilung des Balkans und das andere ist die finanzielle Kolonisierung von Mitgliedsstaaten. Beides hängt zusammen und folgt in der Konsequenz dem gleichen Muster. In beidem spielte und spielt Deutschland eine gewichtige Rolle und beides wird dazu beitragen, dass der Frieden gefährdet ist.

Vor gut einem Jahrzehnt hatte vor allem die damalige Bundesregierung unter dem ersten Grünen Außenminister die europäischen Protagonisten eingesammelt, um sich für eine NATO-Intervention gegen Serbien auszusprechen. Die Folge war die Zerbombung Belgrads, die Neuaufteilung des ehemaligen Jugoslawiens und die Installierung von Kriminellen Vereinigungen wie der Kosovo-Regierung, die mit EU-Unterstützung die Region gezielt destabilisieren. War die militärische Intervention schon ungeheuerlich, so ist die Unterstützung derartiger Vasallenregierungen mit Milliardenbeträgen aus den EU-Töpfen ein Skandal, der bis heute aktuell ist.

Das, was heute als Griechenlandkrise in den Journalen tituliert wird, ist das Ergebnis einer Integration nach dem Muster, Kreditgewährung mit dem Ziel der Korruption der lokalen Eliten und Ermöglichung von Konsum von Waren aus dem Zentrum, z.B. Kauf von deutschen Rüstungsgütern, wie gesagt, auf EU-Kredit. Bei Staatspleite rollt dann der Internationale Währungsfond im Windschatten der EU heran und zwingt die betroffenen Länder nachhaltig mit einem Rezept in die Knie, das aus den Zeiten des Post-Kolonialismus stammt und immer wieder zu Bürgerkriegen geführt hat: Drastische Senkung der Staatsausgaben inklusive der Sozialsysteme, Schuldenrückzahlung und die Liberalisierung(!) des Bankwesens. Kaum zwei Wochen ist es her, dass Madame Lagarde vom IMF den Griechen mit kalter Schnauze diese Strategie ins Pflichtheft schrieb.

Ziel militärischer Intervention wie kreditgeladener Aggression ist und war immer die Etablierung von konsumptiven Märkten. Bei allen Passvereinfachungen muss klar sein, dass es letztendlich um diese Strategie geht. Und es muss klar sein, dass die Protagonisten der deutschen Europapolitik immer das meinen, wenn sie davon reden, dass gerade die Deutschen von der EU profitieren. Nur sind es nicht die Deutschen par excellence, sondern diejenigen, die ihre Waren auf den neuen Märkten absetzen. Die anderen sind dann dazu da, diese Märkte aus ihren Steueraufkommen zu stützen.

Es stellt sich die Frage, wie die Verleihung des Friedensnobelpreises in den Ländern wirkt, die durch die gewaltsam hergestellte Marktaffinität einen sehr hohen Preis bezahlt haben. Und es stellt sich die Frage, wie lange der Friede innerhalb dieser Länder noch hält, angesichts des vor allem von der Kanzlerin so favorisierten Modells der Schuldknechtschaft.