Dissens und Demokratie

Der Zustand von Demokratien lässt sich sehr gut ablesen an der Art und Weise, wie mit dem Dissens umgegangen wird. Wenn es möglich ist, eine abweichende Meinung zu äußern, ohne sogleich diskreditiert zu werden, wenn man in der Lage ist, sich gegenseitig zuzuhören, wenn die unterschiedlichen Auffassungen unvermindert und ungefiltert aufeinander stoßen und in aller Härte ausgefochten werden können, ohne dass darunter der Respekt und das spätere, erneute Zusammenleben nicht ein für alle Mal verhindert wird, dann herrschen Zustände, die sehr wohl als lebendige Demokratie bezeichnet werden können.

Gesellschaften, die in der Lage sind, kultiviert und zivilisiert mit ihrem Dissens umzugehen, gehören eher zu den seltenen Fällen. Sie sind in der Regel Glücksfälle oder sie haben einen langen, argen Weg der Erkenntnis hinter sich. Denn es besteht ein großer Unterschied zwischen einem verfassungsmäßig verbrieften Recht, seine Meinung frei und ungehindert äußern zu können und der Fähigkeit der in dieser Gesellschaft lebenden Individuen, mit abweichenden Meinungen, gegensätzlichen Standpunkten und gravierend unterschiedlichen Interessen auch umgehen zu können. Dazu gehört ein hoher Grad an kognitiver Potenz, sozialer Kompetenz und emotionaler Reife. Alles Qualitäten, die in einem Jahrhunderte währenden Prozess der Aufklärung gereift sind. Neben allem, was mit Rechten und Gerechtigkeit zu tun hat, wird die letzte Schicht, die zu einer wahrhaften demokratischen Qualität gereicht, durch Dimensionen wie Geduld und Demut geprägt.

Gestatten wir uns den Schwenk auf unsere vorherrschende Alltagsprofanität, so sehen wir gleich, mit welchen Problemen wir zu kämpfen haben, wenn wir uns über den Begriff und den Zustand unserer Demokratie unterhalten. Der Dissens wird nahezu systematisch vermieden. In einer Art kollektiver Starre, oder, wie manche Zyniker gar nicht so unzutreffend formulieren würden, nach dem System des Sozial-Mikados wird so lange gewartet, bis der erste Akteur einen Zug macht, um dann im kollektiven Wolfsgeheul, emotional überladen und unreflektiert über das Opfer der eigenen Courage herzufallen. Da toben sich Kohorten aus, die von ihrem Bewusstseinsstand und ihrem Sozialverhalten nicht einmal die Schwelle ins Mittelalter geschafft hätten, jedoch begleitet von einer moralisch selbst inthronisierten Majorität, die dem tobenden Mob permanent signalisiert, auf der richtigen Seite zu stehen.

Und es geht in jedem Fall darum, diejenigen, die den Anlass zum Dissens geben, in ihrem Wesen zu vernichten und für alle Zeiten untragbar zu machen. Das hat Methode und herrscht in nahezu allen Subkulturen, die die verfasste Demokratie vorsieht: Auf den Regierungsbänken, in den Institutionen, bei den Medien und im Volk selbst. Emotional und zivilisatorisch vor-aufklärerisch, sind sie, kalten Auges betrachtet, ein Indiz für die katastrophale Befindlichkeit der Demokratie. Die Hetzjagd auf den Dissens, die Vergötterung des Mediokren und Ignoranz gegenüber dem Anderssein zeugen von einer auf der ganzen Linie post-totalitären Tradition, die es in sich hat.

Das Aberwitzige an diesem Konstrukt ist das formale Reklamieren des Gegenteils: Nie wurde mehr der Begriff der Gerechtigkeit bemüht, nie mehr der Toleranz die Lanze gebrochen und nie mehr das Bekenntnis zu Diversität gegeben. Und nie herrschte so unverblümt der Egoismus, nie wurde das Andersartige so gemeuchelt und nie erschien das Herrschende so Monolithisch. Von der Demokratie sind wir weit entfernt. Der eklatante Widerspruch von Schein und Sein hingegen ist der beste Vorbote für ein neues, anti-zivilisatorisches Bacchanal.