Archiv für den Monat Oktober 2012

Die Konsistenz des Hugo Chávez

Für die schreibende Zunft in unserem Land ist es ungeheuerlich. Eine Figur wie Hugo Chávez wird erneut mit unzweifelhafter Mehrheit zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Der Mann, der vielen als suspekt und undurchschaubar gilt und dessen Auftritte legendär sind. Unvergessen seine Bemerkung, als er unmittelbar nach dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush das Rednerpult betrat, schnupperte und in das laufende Mikrophon rief, es röche nach Schwefel, ein Zeichen dafür, dass der Leibhaftige wohl an diesem Ort gewesen sei. Hugo Chávez ist ein Frondeur, mal feurig chevaleresk, mal melancholisch an die Herzen appellierend, zumeist berechnend und seinerseits unberechenbar. In Lateinamerika genießt er heute, zu Lebzeiten, schon einen Ruf, wie ihn nur Simon Bolivar, Emilio Zapata, Salvador Allende, Ché Guevara oder Fidel Castro erreichten, alles Figuren, die irgendwo im magischen Realismus eines Garcia-Marquez spielen könnten, aber doch zur Wirklichkeit dieses immer wieder überfallenen und ausgeplünderten Kontinents gehören.

Hugo Chávez trat noch einmal an, nachdem er erfolgreich gegen den Krebs gekämpft und sich seit langer Zeit mit einem fast ebenbürtigen Konkurrenten, dem liberalen Henrique Capriles Radonski, hatte messen müssen. Hugo Chavez hat es wieder geschafft, der 58-Jährige twitterte nach Übermittlung der Stimmenauswertung ganz zeitgemäß über sein IPhone Sätze, die aus der Revolutionsromantik stammen: Danke, mein geliebtes Volk! Es lebe Venezuela! Es lebe Bolivar! Und das Volk dankte es ihm, indem es in den Straßen skandierte Uh, ah, Chávez no se va! (Chávez geht nicht!).

Das Volk hat sich mit mehr als 54 Prozent für den Präsidenten entschieden. Chávez hat an seiner Politik der großzügigen Subvention des Gesundheitssektors, der Bildung und des Wohnungsbaus festgehalten, während sein Herausforderer Henrique Capriles Radonski, der für eine Liberalisierung der staatsmonopolistisch gelenkten Wirtschaft eintrat, immerhin auf respektable 45 Prozent der Stimmen kam.

Die hiesige Presse bemängelt, dass Hugo Chávez ein Profiteur der Ölpreisentwicklung der letzten Jahrzehnte war, was kaum zu bestreiten ist. Keine Frage, die Preise pro Barrel stiegen in den letzten 15 Jahren um das Zehnfache und die Verwendung dieser großzügigen Revenuen kam dem sehr einfachen Volk Venezuelas zugute. Letzteres ist die Massenbasis für Chávez und diese hat sich noch einmal gegen den Mittelstand und die Oberschicht durchgesetzt, die eine andere Konzeption für das Land haben.

Wahrscheinlich haben die Kritiker des vor allem wirtschaftspolitischen Weges Hugo Chávez´ gar nicht Unrecht, denn nachhaltig ist es nicht, die Erlöse aus Rohstoffverkäufen einfach auszugeben, anstatt sie in die Entwicklung neuer, Öl unabhängiger Produktivkräfte zu investieren. Aber im Vergleich zu anderen Staaten, die über üppige Einnahmen aus dem Ölgeschäft verfügen, mutet der sozialromantische Ansatz eines Hugo Chávez doch eher sympathisch an. Das Gebaren vieler arabischer Staaten, die sich hochrüsten bis unter die Haarspitzen, die Terrororganisationen finanzieren, die sich einkaufen in Industrieunternehmen anderer Länder, die sich selber im eigenen Land in Compounds gettoisieren und den weltweiten Frauenhandel kultivieren, die an allen Enden ihrer Region Konflikte schüren und in deren Ländern folglich irgendwann, wenn das Öl versiegt ist, wieder der Wüstensand über die Ödnis weht, diese Länder erfahren im Gegensatz zu Venezuela kaum Kritik unserer angeblich so kritischen, in Wahrheit jedoch hoch manipulativen und propagandistisch agierenden Presse. Das ist eine Symptomatik, die mehr beunruhigen muss als die Ausgabenpolitik eines Präsidenten Hugo Chávez.

Soul im kalten Norden

Maceo Parker. Soul Classics

Von Maceo Parker stammt das geflügelte Wort, when I need Sax, I call Candy. Damit meint er die niederländische Alt-Saxophonistin Candy Dulfer, die nicht nur mit ihren funkigen Rhythmen, sondern auch ihren langen Beinen für Furore sorgte. Abgewandelt ließe sich dieses Zitat auf den Initiator selbst übertragen: If you need Funk, call Maceo. Die heute kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag stehende Funk-Ikone aus North Carolina, Maceo Parker, hat nicht nur dem Sound von James Brown die so signifikante Note verliehen, sondern danach auch eine unglaublich hart erarbeitete Karriere hingelegt. Bis heute absolviert der Ur-Funker nahezu 200 Konzerte im Jahr, von welchen keines unter drei Stunden dauert und währenddessen sich nicht nur seine immer perfekt sitzenden Anzüge langsam dunkel färben, sondern die Raumtemperaturen in äquatorialen Dimensionen flimmern.

Bereits im Jahr 2007 kam es zu einem Encounter zwischen Maceo Parker und der WDR Big Band. Letztere steht hier, im kalten Norden, zu Recht in dem Ruf, ein hervorragendes Jazz Ensemble zu sein, das bereits mit vielen transatlantischen Größen Live-Alben aufgenommen hat, die bereits kurze Zeit später als legendär galten. Die Zusammenarbeit aus dem Jahr 2007 konzentrierte sich auf Stücke von Ray Charles. Heute, 2012, sind es Soul Classics, von denen einige fester Bestandteil der brodelnden Konzerte Maceo Parkers mit seiner eigenen Band sind. Genauer gesagt handelt es sich bei dem vorliegenden Album um einen Mitschnitt von den Leverkusener Jazztagen im November 2011.

Zu Soul Classics brachte Maceo Parker gleich noch die Schlagzeugerin Cora Coleman-Dunham und den Bassisten Christian McBride mit, die, um es vorweg zu nehmen, als Rhythmuskatalysatoren einen genialen Job machen. Und egal, welche Stücke der inklusive Zugabe insgesamt 10 Titel man sich anhört, die Fusion von cartesianischem Norden und schwülen Süden ist gelungen. Ob papa´s got a brand new bag, i wish, higher ground, do your thing oder soul power, Maceo Parker spielt für seine Verhältnisse etwas unterkühlt, um sich in die technisch brillant gesetzte Sphäre der Big Band einzufügen. Die Stücke leiden nicht darunter, aber sie werden anders, als sie im parker´schen Original sind. Das mag am Big Band Sound generell liegen, oder an den unterschiedlichen Temperamenten, die hier zusammentreffen. Am Charakter der Soul Classics, auch bei rocky steady oder one in a million you, ist in keiner Weise zu zweifeln, denn sie beschreiben das, was den Süden und den Funk ausmacht: heiße Rhythmen, hohe Temperaturen und eine vorweg genommene Erschöpfung.

Soul Classics ist ein live mitgeschnittenes, brillantes Album, das natürlich von den Protagonisten Parker, Coleman-Dunham und McBride lebt, und das dokumentiert, zu was Michael Abenes WDR Big Band Cologne in der Lage ist. Es ist technisch perfekt eingespielt, es groovt, und die Qualität der Aufnahme ist gut. Es ist auf jeden Fall zu empfehlen, auch wenn die Skepsis nicht weicht und eine bestimmte Frage sich nicht ausblenden läßt: Ist der Soul nicht ein Genre, das woanders hingehört als auf Jazztage?

Ost und West

Der 3. Oktober, offiziell geführt als so etwas wie ein Nationalfeiertag, was schwer fällt, weil die meisten Deutschen nicht zu Unrecht das Gefühl haben, dass hierzulande die Nationenbildung eigentlich nie so richtig gelungen ist, dieser 3. Oktober bekommt in der Retrospektive etwas sehr Monothematisches. Da werden nur noch Bilder der alten DDR gezeichnet, im ersten Jahrzehnt eher trüb und bedrückend, je länger es her ist aber auch differenzierter, mit dem Verweis auf das Menschliche im Unperfekten. Das kann man ertragen, aber es ist wiederum leider nicht dazu geeignet, dem 3. Oktober einen Sinn zu verleihen, weil es die kritische Reflektion auf die deutsche Zweistaatlichkeit und der handelnden Subjekte verweigert.

Neben einer strukturell und systemisch recht angeschlagenen und labilen DDR, die aufgrund ihrer fordernden Kontexte immer noch Erstaunliches geleistet hat, existierte eine BRD, die aufgrund des auserwählten Demonstrationscharakters auf viele Aufgaben und Pflichten, die jedem souveränen Staatswesen obliegen, leichten Herzens verzichten konnte, weil vornehmlich die USA so lästige Dinge wie die Verteidigung und die damit verbundenen Kosten und Schäden generös übernahmen. Irgendwie wuchsen die im Westen auf wie im Garten Eden, aber sie lernten, sich mit Phänomenen zu reiben, sie zu hinterfragen und sich als Subjekte damit auseinander zu setzen. Sie wurden die reflexiven Köpfe der viel zitierten deutschen Zunge, während die Brüder und Schwestern im Osten zu Charakteren heran reiften, die viele Misslichkeiten und Beschränkungen zu überleben in der Lage waren.

Während im Osten das Provisorium kultiviert wurde, verschlief der Westen wie in einem Bacchanal die wichtigen Reformherausforderungen. Aus der privilegierten Stellung wurde eine Wohlstandsverwahrlosung, die die heran nahende Stunde der Souveränität und Eigenverantwortlichkeit mächtig verschlief. Die globale Dynamik, die sich auch in der Auflösung der geo-strategisch bipolaren Welt Ausdruck verschaffte, wurde gerade durch den heute so gefeierten Architekten der Deutschen Einheit, Helmut Kohl, als Kanzler der alten BRD bräsig ignoriert. Und wie toll fand man sich dann im Westen, als man trotz der eigenen Innovationsresistenz dann noch im Osten wie der Himmelsstürmer auftreten und Systeme und Strukturen verkaufen konnte, unter denen heute alle gleichmäßig zu leiden haben.

Die mehr als zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung waren eine Anpassung des Ostens an die Systematik des Westens und die Eroberung der Machtpositionen durch Individuen aus dem alten Osten. Staatsideologie wurde ein Bekenntnis zur Demokratie bei gleichzeitiger Huldigung des Staatsmonopols und der Beibehaltung des larmoyanten Untertons in Ost und West. Bei letzterem gab es den geringsten Anpassungsbedarf auf beiden Seiten.

Betrachtet man die Festivitäten zum 3. Oktober 2012, dann fällt auf, dass trotz der unendlichen Defizite in der Klärung essentieller Fragen eines Nationalstaates so getan wird, als sei das alles irrelevant. Wer sind wir? Wohin wollen wir? Was ist uns wichtig? Und welche Rolle wollen wir spielen? Alles sekundär, so könnte man meinen, wenn man sich die Rhetorik der vergangenen Tage ansieht, in denen man viel von Europa und den europäischen Erfordernissen liest, ohne in der Lage zu sein, Auskünfte auf die deutsche Rolle in dem Prozess Europa geben zu können. Das ist die alte Krankheit, unter denen die großen politischen Architekten deutscher Provenienz leiden. Sie entwerfen kolossale Bauten, ohne einen Gedanken an die Fundamente zu verschwenden.