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Sehr nah an der nackten Wahrheit

Ich habe mir übrigens nicht die Frage gestellt, ob es sich bei dem Buch um einen Roman, eine Erzählung oder um eine historische Betrachtung handelt. Eher aus Zufall bin ich auf Autor wie Buch gestoßen und ich war von der ersten an Seite gebannt. Für mich ist es ein realistischer Thriller. Der französische Autor Emmanuel Carrère hat bereits im Jahr 2012 seine „Hommage“ an den übrigens 2020 verstorbenen russischen Dissidenten, Schriftsteller, Desperado und Politiker Eduard Limonow veröffentlicht. Bei ihm handelt es sich um eine aus allen Perspektiven zu betrachtende schillernde Persönlichkeit, die Zeit ihres Lebens auf Seiten der Rebellion stand und sich dabei auf die irrsinnigsten Koalitionen einließ. Außer, dass sich das im Feuilleton befindliche Lesepublikum mit einem gewissen Kitzel mit literarischen Figuren befasst, denen es im richtigen Leben geflissentlich aus dem Wege ginge, hat diese Figur keinen fiktionalen Hintergrund, denn sie hat tatsächlich gelebt und im Osten wie im Westen eine Rolle gespielt. Und angesichts der aktuellen Entwicklungen im Verhältnis von Russland und dem Westen bringt die vorliegende, reflektierte Biographie des Eduard Limonow einen Reihe von Erkenntnissen über die letzten Jahrzehnte russischer Befindlichkeit.

Und trotzdem, das Leben des Russen Limonow, der im ukrainischen Charkow aufwuchs, den es als Rebellen nach Moskau trieb, der sieben Jahre später als Dissident das Land verlassen musste, der in New York strandete, um dort das russische Exil aufzumischen, sich als Literat einen Namen machte, als Stricher in den Parks lag und als Butler eines Millionärs arbeitete, den es dann nach Paris trieb, wo er als Kultfigur im literarischen Underground galt, bis ihm diese Existenz zu langweilig wurde, der plötzlich im Balkankrieg auf Seiten der Serben stand, der nach Russland zurückging und die dortige Anarchie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte und sich schließlich als Politiker der Nationalbolschewisten einen Namen machte und schließlich in Gefängnissen und Arbeitslagern wiederfand, ist mehr als eine atemberaubende Revue.

Es handelt sich auch um ein Geschichtsbuch über die Sowjetunion und das heutige Russland. Apparatschiks, Geheimdienste und Oligarchen führen dabei Regie, Figuren, die gescheitert sind wie Michail Gorbatschow und Boris Jelzin, Theoretiker wie Alexander Dugin, wie Chodorkowski   und vor allem Wladimir Putin spielen eine Rolle und deren Schilderungen alleine wären die Lektüre wert, denn sie werden mit großer Beobachtungsgabe charakterisiert und erhalten in ihrem historischen Kontext die Erklärungsmuster, die ein Verständnis der heutigen russischen Verhältnisse verdienen. Vieles wird plausibel, was zumindest mir vorher absurd erschien, aber wenn der Nationalbolschewist Limonow Putin einen Faschisten nennt, dann wird das vor dem von Carrère ausgebreiteten Panorama sogar verständlich.

Ohne in den in diesen Tagen so inflationär gebrauchten Superlativ verfallen zu wollen, er lässt sich bei dem vorliegenden Buch von Emmanuel Carrère nicht verhindern. Es ist das beste Buch, das mir in den letzten Jahren in die Finger gekommen ist. Ein Thriller, der den grausamen Realitäten entspricht, in denen die Russen leben, ein Handbuch zum Verständnis von scheinbar undurchsichtigen Zusammenhängen, ohne Glorifizierung, ohne kulturelle Arroganz. Sehr, sehr nah an der nackten Wahrheit. Zumindest im politischen Sinne.

  • Herausgeber  :  btb Verlag (11. August 2014)
  • Sprache  :  Deutsch
  • Taschenbuch  :  416 Seiten
  • ISBN-10  :  344274718X
  • ISBN-13  :  978-3442747184
  • Originaltitel  :  Limonov
  • Abmessungen  :  11.9 x 2.8 x 18.8 cm

Gorbatschow und Obama, Trump und Jelzin

Als die Sowjetunion ihren Zenit überschritten hatte und die systemischen Fehler allzu deutlich wurden, als die Staatsführung nur noch aus den ganz Alten der Nomenklatura rekrutiert wurde, da tauchte am Horizont ein Junger auf, der frischen Wind in das System zu bringen versprach und von vielen als der Retter gesehen werden wollte. Sein Name war Gorbatschow und sein Programm nannte sich Glasnost und Perestroika, übersetzt so viel wie Durchsichtigkeit oder Offenheit und Umgestaltung. Doch anstatt das System zu retten, trug der frische Wind, der von einem von amerikanischer Seite kostspieligem Rüstungswettlauf begleitet wurde, zur fatalen Erosion des gesamten Systems. Die UdSSR brach zusammen und bescherte der Welt die Auflösung einer stabil geglaubten Ordnung.

Für die Bürger der ehemaligen Sowjetunion war das keine schnelle Erlösung, sondern es folgten chaotische Zustände und Hungersnöte und eine Zeit, die bis heute als Trauma erlebt wird. Und dem glücklosen Präsidenten Gorbatschow folgte ein Haudrauf namens Jelzin, der in Wodkalaune für manches Husarenstück sorgte und das Land den Raubrittern des anarchischen Kapitalismus überließ. Letztere nannten sich Oligarchen und griffen das ehemalige Volkseigentum mit zumeist kriminellen Methoden ab. Erst ein Präsident Putin sagte letzteren den Kampf an und holte so manches Gut wieder heim ins Reich. Dass er dabei nicht zimperlich war, ist bekannt.

In den USA markierte das Jahr 2008 einen Wendepunkt. Die Logik der eigenen Ökonomie hatte die Welt in eine Finanzkrise gerissen und die USA selbst waren in einem desolaten Zustand. Finanzspekulation statt Wertschöpfung, das war seit Jahren bereits die Maxime und hatte die einstige ökonomische Macht des Landes unterminiert. Die Apologeten des Freihandels und der internationalen Mobilität hatten mit daran gearbeitet, das Land tief zu spalten in Gewinner und Verlierer der Globalisierung. In diese Atmosphäre, die bereits etwas Endzeitliches an sich hatte, drang ein junger und zudem schwarzer Politiker namens Barack Obama, der einem großen Teil der Bevölkerung noch einmal die Möglichkeit des amerikanischen Traums suggerierte. Zwar konnte dieser Heilsbringer Reformen durchbringen, die vorher undenkbar gewesen waren, aber anderes konnte und wollte auch er nicht ändern.

Jede Supermacht leidet ab irgendeinem Punkt an strategischer Überdehnung, d.h. die Anforderungen an Machterhaltung und Machtausbau sind größer, als es dem tatsächlichen Potenzial des Landes entspricht. Mit dem Anspruch, auch dieses Problem zu lösen, war Obama angetreten und an den Ansprüchen der Falken im eigenen Lager und den Verbündeten in Europa gescheitert. Dass er letztere nun auf seiner Abschiedstour noch einmal an die gemeinsame Verantwortung gemahnte, half außer dem immer wieder abrufbaren deutschen Größenwahn keinem. Dennoch konnte der scheidende Präsident innenpolitisch Erfolge vorweisen, die allerdings im Orkan der internationalen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen verblassen.

Die Amerikaner haben ihrer Enttäuschung freien Lauf gegeben und nach dem brillanten Redner, dem Welterklärer und Moderator nun einen Mann gewählt, der bei seiner Ursachenanalyse auch mal Fünfe gerade sein lässt und sich wenig um die Tischsitten schert. Im Äußeren wie im politischen Gestus erinnert Trump sehr an den ehemaligen russischen Präsidenten Jelzin. Auch das Abfolgemuster stimmt. Es existieren auch Analogien zwischen Obama und Gorbatschow. Und das wird das Spannende: wird Trump, ähnlich wie Jelzin, jetzt die internationalen Verbrecher auf die USA loslassen, um sich noch einzuheimsen, was einzuheimsen ist? Und wenn er das macht, wird er dann so enden wie Jelzin? Machtlos, geduldet und irgendwann ersetzt durch einen, der die Ordnung wieder herstellt und den internationalen Anspruch mit scharfer Zunge erneut formuliert?