Freunde in Zeiten der Eskalation

Angesichts der aktuellen Eskalation im Nahen und Mittleren Osten schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Nicht, was eine eventuelle Parteinahme anbeträfe, sondern auf welcher Ebene ich für mich den Konflikt am besten beschreiben könnte. Die eine Möglichkeit liegt immer nahe und beginnt mir der Frage: was ist in der letzten Zeit politisch passiert, wo sind die Kausalitäten und wie wurde es kommuniziert? Da war, um das gleich abzuhandeln, unmittelbar bevor der Iran nun Raketen und Drohnen Richtung Israel geschickt hat, ein israelischer Militärschlag auf ein iranisches Konsulat im syrischen Damaskus. 7 Tote, darunter ranghohe iranische Militärs. Konsulate und Botschaften gelten als territoriales Hoheitsgebiet der in ihnen residierenden Länder.

Während hier darüber berichtet wurde wie über ein Brückeneinsturz oder einer Naturkatastrophe, hat der Schlag sowohl im Iran wie in anderen Ländern der Region eine ganz andere Reaktion ausgelöst. Es wurde gesehen als ein Anschlag auf die nationale Souveränität. Und während der Iran einen militärisch gewaltigen Gegenschlag tätigte, der allerdings keinen großen Erfolg hatte, sprach man im Westen von einer inakzeptablen Reaktion. 

Es ist ein altbekanntes Spiel. Diejenigen, die ihrerseits sich die Legitimität jedweder aggressiven und das internationale Recht brechenden Handlungen zugestehen, sprechen dieses Recht der Gegenseite schlichtweg ab. Indem sie sich selbst als die Wahrer einer regelbasierten Ordnung sehen, geben sie sich für jede nur erdenkliche Handlung eine Carte Blanche.

Das Denkschema auf beiden Seiten ist bekannt. Sieht man sich die Konfliktzonen auf dieser Welt an, dann ist das Spiel immer das gleiche. Hier der Westen, der für sich die Wahrung der Ordnung reklamiert und sich selbst jede Verletzung derselben zugesteht und dort der vermeintlich unisono autokratische Rest der Welt, der das zu akzeptieren hat, ansonsten kommt eine nächste, neue Sanktion, in welcher Dimension auch immer. 

Die zweite Betrachtungsweise, die sich mir aufdrängt, ist die Rekonstruktion eines solchen Konfliktes in meinem unmittelbaren Umfeld. Ich stelle mir vor, ein langjähriger Freund, mit dem mich vielleicht sogar eine leidvolle gemeinsame Geschichte verbindet, verhält sich in manchen Fällen so, wie ich es mir selbst nicht erlauben würde. Und zwar aus formal juristischen wie auch aus ethischen Gründen. Es beginnt damit, dass er, sagen wir, einem Nachbarn, der wirklich kein Sympathieträger ist, der zuweilen schroff und hinterhältig ist, der seine Frau schlecht behandelt und seinen Hund schlägt, in den Vorgarten pinkelt. Der Streit beginnt, und was bei meinem Freund als launige Geste begann, um dem Scheusal die Wertschätzung zu zeigen, steigert sich. Mal schüttet er Gift an den Stamm des Apfelbaums seines Nachbarn, mal lässt er die Stallkaninchen frei, dann zündet er die Garage an und dann zersticht die Reifen an dessen Auto. Und der Nachbar verhält sich so, wie von ihm erwartet. Er revanchiert sich mit den gleichen Mitteln.

Die Frage, die ich mir stelle, ist die, was ich mit meinem Freund machen würde? Würde ich ihn wirklich anstacheln, so weiter zu machen und dem Drecksack von Nachbarn so richtig einzuschenken, oder würde ich ihn beiseite nehmen und mit ihm sprechen wollen? Um ihm zu zeigen, wohin ihn das selbst führt? Dass er seinem Nachbarn immer ähnlicher wird und dass der Weg, den er eingeschlagen hat, auch wenn ich so manches gut verstehe, zu keiner Lösung führt? Und darüber nachzudenken ist, wie man, bei allen Differenzen, zu einem Modus Vivendi kommen könnte, der die Eskalation von Gewalt und Zerstörung hinter sich lässt? 

Gegenwärtig scheinen alle, die sich als Freunde bezeichnen, in der Unterstützung der Eskalation den einzigen Weg zu sehen, um ihre Freundschaft zu beweisen. Das ist nicht nur betrüblich. Nein, es ist auch armselig.

4 Gedanken zu „Freunde in Zeiten der Eskalation

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  2. gkazakou

    Das einzige, was mich in dieser Situation tröstet, ist, dass der iranische Angriff keine Todesopfer forderte und also die Auge-um-Auge-Rechnung eigentlich nicht erneut aufgemacht werden kann. Eigentlich. Ich denke, auch der Iran will keine Ausweitung des Kriegs, konnte aber die Bombardierung seiner Botschaft auch nicht unkommentiert hinnehmen. Nun hat er seine Würde wieder hergestellt, hat ein Zeichen gesetzt, ohne großen Schaden anzurichten. Die Reihe ist nun an Israel zu deeskalieren.

  3. Gamma Hans

    Mich hat Kants Aufforderung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ immer fasziniert. Für Kant ist klar, dass es keine bequeme Sache ist, sich ein Urteil zu bilden, wenn es sich auf Verstand gründen soll. Er spricht eben nicht vom Mut zur Meinung. Es kostet Mut, weil der Verstand einem die eigenen Vorurteile und Meinungen kräftig verderben und entlarven kann. Uns steht einmalig viel Wissen zur Bildung von vernünftigen Urteilen zur Verfügung. Zugleich haben wir unendlich viele Anbieter von Meinungen, Vorurteilen, Verurteilungen, die mit Feindbildern locken. Kants Feststellung, dass es Mut braucht, auf den Verstand zu setzen, ist aktueller denn je. Es ist kein einfacher Weg. Niemand ist gefeit vor Irrtümern. Aber es ist und bleibt der Weg von Freiheit und Mündigkeit. Die Demokratie fordert diesen Mut ein. Sie lebt vom Respekt vor der Verstandesarbeit anderer. Aufmerksamkeit ist geboten bei jenen, die Ängste schüren und damit entmutigen.

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