Die letzten Tage der Blindheit

Die letzten Tage der Menschheit. So hieß eine Tragödie in fünf Akten von Karl Kraus, in dem er den Untergang der Zivilisation seines Zeitalters thematisierte. Bei der Registrierung dessen, was uns täglich an Meldungen erreicht, kommt mir ein ähnlicher, leicht abgeänderter, aber treffenderer Titel in den Sinn. Das Journal, das wir nun schreiben, läuft unter der Überschrift: Die letzten Tage der Blindheit. Und sollte es einem woken Irrling in den Kopf kommen, jetzt bereits lauten Protest zu äußern, so möge er/sie/es es tun, es gehört bereits zu der beabsichtigten Dokumentation.

Die aktuellen Meldungen haben, wie immer, etwas von allem. Selbstverständlich beginnt es mit der medialen Kanonade gegen die russischen Präsidentschaftswahlen. Vieles wäre berechtigt und ernst zu nehmen, käme die nicht erwähnte, aber entscheidende Information dazu, dass die anstehenden Wahlen in der Ukraine kurzerhand abgesagt worden sind. So steht eine Repression gegen die andere. Und, davon kann mit Sicherheit ausgegangen werden, die Zustimmung zu Putin in Russland ist größer als die zu Selenskij in der Ukraine. Deswegen wird dort auch nicht gewählt.

Dann lesen wir von dem Bericht über die Inspektion der Bundeswehr. Dort wird gemeldet, dass sämtliche Waffengattungen im Ernstfall nicht einmal länger als eine Woche einsatzfähig sind. In gleichem Atemzug wird an anderer Stelle der Wunsch zum Ausdruck gebracht, sich in Europa zu der militärischen Supermacht Nr. 1 entwickeln zu wollen bzw. bereits auf dem Weg dahin zu sein. Tatsache ist, dass da einige Experten den Unterschied zwischen Waffenfabriken und schlagkräftigen Streitkräften verwechseln. Das ist nicht blind. Das ist karnevalesk. Und das mitten in der Fastenzeit.

Apropos Wahlen. Im Juni darf das Europäische Parlament wieder gewählt werden. Und, ganz analog zu Russland, nein schlimmer, der wichtigste Posten, bei dem es dabei geht, ist bereits ohne Votum vergeben. Die unheilvolle, schillernde und immer mit verdeckten Karten spielende jetzige Kommissionspräsidentin wird auch die zukünftige sein. Ohne Votum der Wahlberechtigten.  So stellen wir uns alle Demokratie vor. Vielleicht sollte wir die Dame in Zukunft unseren Putin nennen, damit auch die letzte Nebelkerze Licht auf diese Verhältnisse wirft.

Und natürlich darf kurz vor einem europäischen Fußballturnier im eigenen Land nicht der erneute, dritte Versuch unerwähnt bleiben, durch die Apostrophierung der eigenen Ideologie in der Farbwahl der Trikots des eigenen Teams den Fokus auf etwas anderes zu richten als auf den Fußball. Wer einen will, macht so etwas nicht. Wer spalten will, schon. Ach, wie sehne ich mich nach den noch proletarischen Ikonen, die mit „wichtig ist auf dem Platz“ und „wer mehr Tore schießt, gewinnt“ zurück. Da lag der Fokus noch da, wohin er gehört. Aber da hieß es auch noch „Sieg, oder Blut im Schuh“, das passt nicht mehr in die Vorstellungen eines drogenumwölkten Individualismus. Dass das selbe Klientel gleichzeitig von einer Fortführung eines von anderen geführten Krieges bis zum Endsieg schwärmt, deutet auf den Grad der Verblendung. Blieben sie ihrer eigenen Praxis treu, dann würden sie olivgrüne Trikots favorisieren. Das wiederum spräche für Konsequenz.

Damit wären noch lange nicht am Ende der täglichen Kuriositäten, aber dennoch an ihrem Kern. Die letzten Tage der Blindheit beziehen sich auf den Verlust einer gewissen mentalen Stringenz, die erforderlich ist, um in schwierigen Zeiten zu überleben. Diese Voraussetzung ist nicht mehr gegeben. 

Ein Gedanke zu „Die letzten Tage der Blindheit

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