Und der Zukunft zugewandt? Texte aus dem Herbst 1989

  1. Das Fest

Das letzte Bacchanal einer morbiden Gerontokratie! Dabei sollte das ganze Volk der sozialistischen deutschen Nation auf den Straßen tanzen. Doch Tausende desselben zogen es vor, über Ungarn, die Tschechoslowakei oder Polen die Mücke zu machen. An Zahl und Mut wesentlich größer, gingen zum anderen Hunderttausende auf die Straßen zu Berlin, Dresden, Leipzig, Erfurt, Gera, Jena etc., um gegen die Sturmreihen von Schlagstöcken und Wasserwerfern des real existierenden Sozialismus die Parole der Freiheit zu halten, verbunden mit der Drohung: „Wir bleiben hier!“

Für die herrschende, politisch völlig ausgebrannte Despotenclique handelte es sich bei den Protestierenden lediglich um asoziale Randalierer und Querulanten. Wem fällt da nicht das kluge Wort Brechts ein, das er schon vor sechsunddreißig Jahren gegen die gleiche etatistische SED richtete, wenn der Regierung das Volk nicht mehr passe, solle sie sich doch ein anderes wählen?

Es entbehrt nicht einer überaus bitteren Ironie, dass die abgefeimteste Version der orientalischen Despotie an ihrer westlichsten Gemarkung ihre Physiognomie dermaßen dreist über den Zaun streckt. Ein Apparat, dessen Funktionsweise beschrieben werden kann als ein höchstenfalls noch kriminologisch interessantes Ineinandergreifen von post-feudaler Nomenklatura und preußisch-repressiver Buchführung. Der Absolutismus der SED-Führung beruft sich klassisch dezisionistisch auf die Maxime, dass alles, was ist, auch sein soll und deswegen legitim ist. Die Unmöglichkeit eines Dialogs mit einer solchen Position ergibt sich von selbst. Der Widerspruch SED – Volk ist zu einem in klassischem Sinne antagonistischen geworden. Die Hegemonie der Liquidatoren jeglicher Art von Dialektik schließt das Postulat nach Freiheit aus.

So musste das gebeutelte Berlin, das eigentlich die berühmte Schnauze von Fackelzügen gestrichen voll haben sollte, einen mehrstündigen Aufmarsch der SED eigenen Claque, genannt FDJ, ertragen. Während überall in der DDR das Blut aus den Platzwunden spritzte, schwor die Parteijugend ewige Treue auf das sozialistische Vaterland. Im Anschein dieses Szenarios waren wir alle Zeitzeugen eines historisch seltenen Kuriosums: Honecker stand im Palast der Republik am Grab seines abgewirtschafteten Clans und hielt seinen eigenen Nekrolog.   

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