Aus der Perspektive eines Inders: Das woke, kosmopolitische Milieu

„…aber mir selbst war nicht aufgefallen, dass das Auswandern für eine winzige Minderheit der Weltbevölkerung keine unerwünschte, sondern eine unvermeidbare Lösung für eine unerträgliche Existenz war; es war eine gewählte Lebensweise, eine zwanghafte Bewegung durch eine Welt, in der Klasse und Bildung Sicherheit bedeuteten und in der die Mängel einer Gesellschaft nicht allzu lang an ihnen haften blieben.

Ich fand es bemerkenswert, dass sie alle, ganz unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Beruf, entweder an Universitäten in Europa oder den USA studiert hatten. Auch schien es mir sehr ungewöhnlich, dass viele von ihnen, die außerhalb ihrer angestammten Heimatländer heirateten, junge gemischt ethnische Kinder hatten.

Doch viel erstaunter war ich immer darüber, wie diese Nutznießer des globalen Kapitalismus, die in London in aller Ruhe ihr Glück feierten, die multikulturelle Existenz als Norm anzunehmen schienen; wie sie sich mit soviel träumerischem Wohlwollen ausmalten, dass die Zukunft aus immer mehr Freiheiten für immer mehr Menschen bestehen würde. 

Sie lebten in Versionen des Hauses…: hohe Decken, Oberlichter, weiß gestrichene Wände, Parkettböden und strategisch platzierte Lampen. Diese Häuser waren frei von geerbten, klobigen Möbeln, sie wurden regelmäßig von Osteuropäerinnen gesaugt und glänzten nahezu vor Leichtigkeit und gutem Willen.

Doch mit zwei oder drei Pässen und E-Mail-Adressen und mehreren Social-Media-Accounts pro Person schienen die Menschen in deinem Umfeld immer woanders zu leben, im Eurostar und im Heathrow Express, in Hotelzimmern und Business-Class-Lounges, auf Rollsteigen, Rolltreppen, in Taxis und Flugzeugen (mit ständiger Sorge um die CO2-Bilanz, die aber teilweise mit umweltfreundlichen To-Go-Kaffeebechern aufgebessert wurde.)

Meistens schien ihr wirkliches Zuhause aber auf Facebook zu sein – unordentlich und schlecht beleuchtet -, wo sich amateurhaft aufgenommene Bilder von Hummus, der wie ein Vulkankrater geformt ist und in dessen Mitte Olivenöl schwimmt, oder ein Teller mit Schoko-Brownies an jedem beliebigen Tag mit Fotos von Babys, Kleinkindern, Geburtstagspartys, Hochzeiten an Urlaubsorten, Wochenendausflügen, einem Meera-Sodha-Rezept und Flüchtlingen hinter Stacheldraht abwechselten, und alles immer begleitet von Likes, Emojis und solch verbalisiertem Überschwang wie „Ihr seht alle so toll aus!“ und „Oh, danke, es war klasse, dass du da warst“ und „Europas Schande.“

Und immer schienen sie ein Vermögen zu verdienen und ihren Reichtum zu vergrößern. Doch diese Seite ihres Lebens blieb verborgen.“

Aus: Pankaj Mishra, Der Goldschakal, Frankfurt am Main 2023, S. 317ff. 

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