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Geeignete Lektüre für einen radikalen Perspektivenwechsel

Pankaj Mishra. Goldschakal. Roman

Das, worunter Europa und der transatlantische Westen derzeit wohl am meisten leidet, nämlich an der mangelnden Fähigkeit, die Perspektiven zu wechseln und sich in die Sichtweise anderer Teile der Welt zu begeben, kann mit dem vorliegenden Buch hervorragend therapiert werden. Der indische Autor Pankaj Mishra, der seinerseits bereits zahlreiche Bücher zu global-politischen Entwicklungen geschrieben hat, hat mit einem Roman seinerseits Einblick in das Innenleben seines eigenen Milieus gegeben und gleichzeitig den Blick auf den Westen aus Sicht der intellektuellen Aufsteiger seines Landes freigemacht. Es handelt sich dabei um eine sehr komplexe Aufgabe, der der Autor auf jeden Fall gewachsen ist. Ob es dem westlichen Leser allerdings gelingt, sich in die Zwänge und Tabus des indischen Subkontinents zu versetzen, sei dahingestellt.

In dem in Deutschland unter dem Namen „Goldschakal“ erschienenen Roman, der im Englischen mit dem Titel „Run and Hide“ einmal mehr das Wesen des Buches weitaus besser trifft, geht es um drei Studenten des Indian Institut of Technology, eines der Sprungbretter zur sozialen Emanzipation in Indien selbst und, bei erfolgreichem Abschluss, eine hervorragende Referenz für eine Karriere auch in Europa und den USA. Alle drei leiden beträchtlich unter den in diesem Institut herrschenden Initiationsritualen, die mit aus der Klassengesellschaft typischen Demütigungen verbunden sind. Sie tragen zur Traumatisierung bei, hindern jedoch nicht, aufsehende Karriereren und Lebensläufe zu produzieren.

Das Interessante ist, dass letztendlich alle scheitern, und zwar auf ihre eigene Weise. Wirtschaftskriminalität, sexuelle Übergriffigkeit und Flucht in die Askese und das Eremitentum sind das Resultat einer mental überforderten Generation, der die Passage zwischen einem politisch heiklen Indien mit katastrophalen sozialen Diskrepanzen und einem an der Dekadenz wabernden Westen zu viel abverlangte. Der Ich-Erzähler schildert, als episches Vehikel, den Weg der drei einer Frau, die ihm kurzfristig einen Weg aus dem Dilemma zu gewährleisten schien, was ihn allerdings überforderte.

Der Roman gewährt tiefe Einblicke in die Widersprüchlichkeit, die Ungleichzeitigkeit, aber auch die Kraft Indiens. Er illustriert auch, wie tief das Trauma der kolonialen Unterwerfung im kollektiven Bewusstsein noch sitzt und wie sehr es bis heute die indische Politik befeuert. Er zeigt, was diejenigen, die das Land hinter sich lassen und in der globalen Welt aufgehen wollen, durchzumachen haben und er schildert die Oberflächlichkeit, die die Karriere im Westen schließlich hervorbringt und die das Problem der eigenen Emanzipation nicht lösen kann. Und, vor allem bei einem inneren Abgleich von der bis zur Bewusstlosigkeit medial verbreiteten Selbstwahrnehmung des Westens mit der Sichtweise eines asiatischen Intellektuellen, wie irrwitzig subjektiv diese Wahrnehmung ist. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass nach der Lektüre des „Goldschakals“ überdeutlich wird, welchem Irrglauben der Westen in der Welt erliegt und wie er sich dadurch systematisch und unaufhaltsam isoliert.

Pankaj Mishras Roman „Goldschakal“ geht unter die Haut. Weil er einen Einblick in die Realitäten eines ungeheuer vielschichtigen und gewaltigen Landes gewährt, weil er die Sichtweise von dort auf unsere Welt transparent macht und weil er jede Form von systemischer Gewissheit radikal relativiert. Wer einen radikalen Perspektivenwechsel wagen will, lese dieses Buch!

  • Herausgeber  :  S. FISCHER; 1. Edition (26. April 2023)
  • Sprache  :  Deutsch
  • Gebundene Ausgabe  :  416 Seiten
  • ISBN-10  :  3103971567
  • ISBN-13  :  978-3103971569
  • Originaltitel  :  Run and Hide

Aus der Perspektive eines Inders: Das woke, kosmopolitische Milieu

„…aber mir selbst war nicht aufgefallen, dass das Auswandern für eine winzige Minderheit der Weltbevölkerung keine unerwünschte, sondern eine unvermeidbare Lösung für eine unerträgliche Existenz war; es war eine gewählte Lebensweise, eine zwanghafte Bewegung durch eine Welt, in der Klasse und Bildung Sicherheit bedeuteten und in der die Mängel einer Gesellschaft nicht allzu lang an ihnen haften blieben.

Ich fand es bemerkenswert, dass sie alle, ganz unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Beruf, entweder an Universitäten in Europa oder den USA studiert hatten. Auch schien es mir sehr ungewöhnlich, dass viele von ihnen, die außerhalb ihrer angestammten Heimatländer heirateten, junge gemischt ethnische Kinder hatten.

Doch viel erstaunter war ich immer darüber, wie diese Nutznießer des globalen Kapitalismus, die in London in aller Ruhe ihr Glück feierten, die multikulturelle Existenz als Norm anzunehmen schienen; wie sie sich mit soviel träumerischem Wohlwollen ausmalten, dass die Zukunft aus immer mehr Freiheiten für immer mehr Menschen bestehen würde. 

Sie lebten in Versionen des Hauses…: hohe Decken, Oberlichter, weiß gestrichene Wände, Parkettböden und strategisch platzierte Lampen. Diese Häuser waren frei von geerbten, klobigen Möbeln, sie wurden regelmäßig von Osteuropäerinnen gesaugt und glänzten nahezu vor Leichtigkeit und gutem Willen.

Doch mit zwei oder drei Pässen und E-Mail-Adressen und mehreren Social-Media-Accounts pro Person schienen die Menschen in deinem Umfeld immer woanders zu leben, im Eurostar und im Heathrow Express, in Hotelzimmern und Business-Class-Lounges, auf Rollsteigen, Rolltreppen, in Taxis und Flugzeugen (mit ständiger Sorge um die CO2-Bilanz, die aber teilweise mit umweltfreundlichen To-Go-Kaffeebechern aufgebessert wurde.)

Meistens schien ihr wirkliches Zuhause aber auf Facebook zu sein – unordentlich und schlecht beleuchtet -, wo sich amateurhaft aufgenommene Bilder von Hummus, der wie ein Vulkankrater geformt ist und in dessen Mitte Olivenöl schwimmt, oder ein Teller mit Schoko-Brownies an jedem beliebigen Tag mit Fotos von Babys, Kleinkindern, Geburtstagspartys, Hochzeiten an Urlaubsorten, Wochenendausflügen, einem Meera-Sodha-Rezept und Flüchtlingen hinter Stacheldraht abwechselten, und alles immer begleitet von Likes, Emojis und solch verbalisiertem Überschwang wie „Ihr seht alle so toll aus!“ und „Oh, danke, es war klasse, dass du da warst“ und „Europas Schande.“

Und immer schienen sie ein Vermögen zu verdienen und ihren Reichtum zu vergrößern. Doch diese Seite ihres Lebens blieb verborgen.“

Aus: Pankaj Mishra, Der Goldschakal, Frankfurt am Main 2023, S. 317ff.