Jedes Individuum kennt die Situation, aber auch nahezu jede Organisation und es geht hoch bis zum Staat oder Staatenbündnissen. Irgendwann entsteht ein Konflikt mit einer anderen Partei. Der Konflikt kommt aber nicht gleich zum Ausbruch und wird nicht durch eine einmalige Handlung gelöst. Entweder fällt es den beteiligten Seiten zu schwer, sich in Verhandlungen zu begeben, um die unterschiedlichen Interessen auszugleichen. Oder der Aufwand und die befürchteten Verluste einer gewaltsamen Lösung, ja eines Krieges werden als zu hoch erachtet, um den Konflikt zu beenden. In beiden Fällen bleibt der Dissens, aber man richtet sich auf allen Seiten darauf ein, mit diesem Konflikt, der ein ständiger Missklang bleibt, auf unbestimmte Zeit weiterzuleben. Was bleibt, ist das Versprechen, den Konflikt dann zu lösen, wenn die Verhältnisse es erlauben.
Und so entsteht auf jeder Seite mit der Zeit eine Legende, die alles beinhaltet: die Genese des Konfliktes, seine Ursachen, die Beantwortung der Schuldfrage, die sich immer wieder aufdrängenden Belege der eigenen Deutung und die Liste der Versprechungen darüber, wie und wann und mit welchen Folgen der Konflikt zu den eigenen Gunsten gelöst werden wird. Heute nennt man so etwas ein Narrativ. Nahezu jede Familie weist ein solches Narrativ auf, viele politische Parteien, und immer wieder Staaten und Staatenbünde.
Auffallend ist, dass es gefühlt immer mehr tödliche Konflikte gibt als tatsächlich wie auch immer gelöste. Und auffallend ist auch, dass die Bereitschaft, sie wie auch immer zu lösen, in keinem Verhältnis zu den Schäden steht, die sie auslösen. Es muss also ein Kraft geben, die den Konflikt in etwas verwandelt, das aus einer bestimmten Perspektive Sinn macht und dafür sorgt, dass er weiter schwelt.
Analysiert man vor allem die Befindlichkeiten auf den betroffenen Seiten eines bereits lange andauernden, unversöhnlichen Konfliktes, so lässt sich beobachten, dass die erwähnten Narrative nicht nur Sinn machen, sondern auch für eine große Kohärenz im jeweiligen Lager suchen. Immer wieder versichert man sich der Kompanie, der Solidarität und der Waffenbrüderschaft, immer wieder identifiziert man sich mit den gleichen Symbolen und den gleichen Feindbildern. Und immer wieder wird auch deutlich, dass die Fähigkeit, sich über die Befindlichkeit des Konfliktes hinwegzusetzen und auf die andere Seite zuzugehen mit der Fortdauer der Zelebrierung des Zerwürfnisses tendenziell unwahrscheinlicher wird. Je länger der Konflikt dauert, desto irrationaler wird seine Begründung.
Die große Chance, die in der Auflösung derartiger Konflikte zeitgleich besteht, ist die Beantwortung der Frage nach den tatsächlich noch vorhandenen Ursachen. Oft ist das gar nicht mehr möglich. Manchmal, und das scheint die Ironie der Geschichte zu sein, manchmal ist das deshalb so schwer, weil sich die verfeindeten Parteien mit der Fortdauer des Konfliktes durch ihr eigenes Verhalten angenähert haben. Wie hieß es sich schön in einem der großen politischen Konflikte im 20. Jahrhundert?: Wandel durch Annäherung.
Die Kultivierung von Konflikten hat immer den Vorteil, im eigenen Lager für Kohärenz zu sorgen. Sie führt mit ihrer eigenen Fortdauer zu einer steten Entfernung von den eigentlichen Ursachen. Darin liegt dann die Chance, einen Versuch der Lösung zu unternehmen. Darin liegt aber auch die Gefahr, dass das Irrationale zur Normalität wird. Und diese Gefahr ist groß.