Perspektivenwechsel? Perspektivenwechsel!

Ich habe mich wieder dabei ertappt! Seit Tagen legt sich meine Aufregung nicht. Sie mündet nicht in Aggression. Eher in Verzweiflung. Der Anlass war profan. Ich unterhielt mich mit einem aus meinen Augen und für die hiesigen Verhältnisse gebildeten Menschen über Gott und die Welt. Und, wie sollte es anders sein, wir kamen auch auf die globalen politischen Turbulenzen zu sprechen. Was mich seit langer Zeit umtreibt und mir unverständlich ist, sah ich in diesem Dialog wieder bestätigt. Die Fähigkeit oder der Wille, sich in die Schuhe, wie man im anglophonen Sprachraum so schön sagt, der anderen Akteure zu versetzen, ist nicht vorhanden. Dass Chinesen, Inder, Russen, Südafrikaner oder Brasilianer die Welt anders betrachten als wir, d.h. der Westen oder das Abendland, müsste eigentlich eine der profansten Erkenntnisse in dieser so hochgelobten Zivilisation sein. Aber seit dem man multimedial mit der Stigmatisierung von Menschen, die einen Perspektivenwechsel wagen, um die Motive anderer Akteure nachvollziehen zu können, mit dem Unwort des Verstehers versehen hat, ist diese Tugend in einer Kultur, die sich auf die Aufklärung beruft, erloschen.

Die Entwicklung ist umso erschreckender, als dass im Arbeitsleben Jahrzehnte hinter uns liegen, in denen immer wieder in Seminaren der Perspektivenwechsel geübt wurde: um Friktionen zu vermeiden, um besser kommunizieren zu können, um zu tragbaren Arrangements zu kommen. Alles weg! Alles vom Tisch! Alles ein großer Irrtum!

In einem Zeitalter, das von Digitalisierung geprägt ist und in dem jeder Kretin ohne große Kenntnisse über die Künstliche Intelligenz schwadroniert, verfällt das Gros der Gesellschaft in eine anachronistische Mentalität, vergleichbar mit der der Kreuzzüge. Und ohne sich bewusst zu sein, dass es selbst bei diesen um ganz weltliche Werte ging. Krieg und Raub sind rehabilitiert. Was nutzt da das Verständnis des Gegenübers? Es ist hinderlich, es trägt nur zu dem bei, was bereits seit einiger Zeit offen ausgesprochen wird. Es fördert den Defätismus. Wer sich in der Welt des Militarismus bewegt, muss so denken. 

Ich empfehle es jedem, sich, damit es nicht gleich so weh tut, in einen Seminarzustand zu versetzen, und vielleicht sogar in kleinem Kreise der Übung halber in die Lage eines Staates zu versetzen, der nicht den eigenen Allianzen angehört und aufgrund der dortigen historischen Erfahrungen den wahrscheinlichen Blick auf die Geschehnisse aufzuschreiben. Das Ergebnis wird, im Gegensatz zu den hierzulande täglichen Hirnschablonen, zu einiger Verblüffung führen. Denn es wird sich herausstellen, dass der Blick auf die Welt ein anderer ist und die Interessen in vielen Fällen nicht identisch sind. Und kommen sie mir bitte nicht dann mit den Werten! Da zitiere ich Egon Bahr und empfehle, den Saal sofort zu verlassen. Denn in der Politik geht es immer um Interessen. 

Es handelt sich um einen gut gemeinten Vorschlag. Mehr nicht. Und es tut auch nicht weh. Es ist nur eine Übung. Und wer flunkern will, der sollte es lieber von vornherein lassen. Denn wer den Konflikt will, der bekommt ihn auch! Versprochen!

Ich plädiere immer noch für den Perspektivenwechsel. Nicht, um die eigenen Interessen preiszugeben. Aber um unnötige Konflikte zu vermeiden.  

3 Gedanken zu „Perspektivenwechsel? Perspektivenwechsel!

  1. rotewelt

    Wie las ich lürzlich: Der Psychologe Ernst Pöppel kam zu der Einsicht, dass nur rund zehn Prozent der Menschen selber denken. Das deckt sich mit meinen Beobachtungen der zumindest letzten drei Jahre auch im engsten Kreis. Wie sollte man da erst einen Perspektivenwechsel meistern? Neben fehlender Denkfähigkeit und Empathie liegt das Nicht-Hineinversetzen-Könnens meiner Meinung nach auch und vor allem an geistiger Faulheit, dem blinden Glauben an die Mehrheitsmeinung und Opportunismus. Dabei glänzen die formal Gebildeten leider oft am meisten durch Unfähigkeit oder eher mangelnde Bereitschaft zum Selberdenken. Desillusionierung über die Menschen ist die Erfahrung, die mich seit spätestens 2020 begleitet und im Grunde ist es längst Resignation, denn woraus soll das Bessere entstehen?

  2. gkazakou

    ich hatte hier auch kommentiert, doch weigerte sich dein Account, ihn anzunehmen. Hm. Also: Ja, ich erfahre es auch immer wieder, dass meine Versuche, andere Menschen zu versuchsweisem Perspektivwechsel zu überreden, scheitert. Sogleich heißt es, ich würde die auf „der anderen Seite“, die leiden, verraten. ZB die unterdrückten Frauen, wenn ich die Welt aus dem Blickwinkel der Mudjaheddin zu betrachten versuche. Das ist natürlich Blödsinn, ich versuche ja nur, ihre Denk- und Handlungsweise zu verstehen – unter der Annahme, dass sie einer Art Logik folgen. Dasselbe trifft für Themen innerhalb ein- und derselben Nation zu, zB für Israel: Versuche ich mit den Augen eines Unterstützers der Netaniahu-Strategie zu sehen, zeigen sich andere Fakten, als wenn ich versuche, mit den Augen eines Kritikers dieser Politik zu sehen. Oder Russland und der Ukraine-Krieg oder… Alle Positionen haben eine innere Logik, und wenn ich die verstehe, verstehe ich auch die daraus folgenden Handlungen (außer sie sind „verrückt“, „Pschopathen“ oder „Tiere“).

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