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Politik: Das Scheitern an der einfachen Logik

So mancherlei mutet befremdlich an. Da sind nun alle möglichen Kräfte am Werk, die darauf pochen, dass es bei dem aktuellen Krieg auf europäischem Boden um den Kampf der liberalen Demokratie gegen die Despotie geht. Das wichtigste Argument, um zu begründen, sich bei diesem Konflikt ausschließlich um die militärischen Aspekte kümmern zu müssen, d.h. vor allem schwere Waffen so schnell wie möglich zur Unterstützung der gegenwärtigen ukrainischen Regierung liefern zu wollen, wird in der Verteidigung der Werte gesehen. Alle Fragen, die sich um Diplomatie oder eine mögliche Friedensordnung danach drehen, werden nahezu als blasphemisches Hexenwert diskreditiert, übrigens bis hin zu den Personen, die sie stellen. Das Argument, das alles überragt, sind die im Westen beheimateten Werte der bürgerlichen Demokratie, von handfesten Interessen redet indessen niemand.

Ein Filmregisseur würde jetzt das magische Wort Cut! rufen und, dessen könnte er sich sicher sein, einen verblüffenden Schnitt damit erzielen, dass er genau diejenigen, die voller Inbrunst das Leben anderer zu riskieren bereit sind, um die Werte zu verteidigen, ohne jeden Skrupel in der Corona-Krise bereit waren, sich eben diese Werte kampflos nehmen zu lassen. Die nicht ohne Grund unveräußerlich genannten Rechte wurden mit Notverordnungen geschreddert. Mit dem Argument – und das ist so beachtlich wie dazu geeignet, das Attribut Wahnsinn als durchaus zutreffend für die politischen Verhältnisse unserer Tage zu bewerten – das Leben vulnerabler Gruppen retten zu wollen, mutierten die zentralen Werte demokratischer Verfasstheit zu wertlosem Lametta. Die Zahl der Opfer hier wie nun in der Ukraine stehen in keinem Verhältnis zueinander. Die Geldaufwendungen für die zu liefernden Waffen und die Investitionen für das Gesundheitssystem stehen in keinerlei Relation. Daran sind die Prioritäten ablesbar.

Aber es ist, wie es ist. Wer sich über die völlig unlogische, um nicht zu sagen verlogene Argumentation wundert oder gar echauffiert, bekommt den standardisierten Satz entgegengeschlagen, die Welt sei nun einmal komplex. Dass sich zunehmend Menschen um diese hirnrissige Bemerkung nicht mehr scheren, ist einer der wenigen Lichtblicke dieser Tage. Und dass es mehr und mehr Menschen vorziehen, den Erkenntnissen einfacher Logik als dem Geschwafel über die Unübersichtlichkeit von Komplexität zu folgen, ist, ja, es ist erstaunlich, eben die Folge einfacher Logik.

Was übrigens eine entscheidende Erkenntnis über das herrschende politische Milieu zutage fördert. Wenn Denkinstrumente wie die einfache Logik bereits als etwas Subversives angesehen werden, das aus dem verpönten Schoß des Populismus kriecht, dann sind die so empfindlich reagierenden Protagonisten was? Ein Freund, der sein ganzes Leben in den verschiedensten Funktionen des politischen Systems verbracht hat, der als ein dortiger Leistungsträger angesehen wurde und nicht als populistisches Windei, sondern als eine tragende Säule bezeichnet werden musste, brachte es in einem Gespräch, in dem wir einige der Repräsentanten der jetzigen Politik unter die Lupe nahmen, folgendermaßen auf den Punkt:

Als einziges Bewertungskriterium ist die Loyalität zur eigenen Partei geblieben. Grundlegende Kenntnisse in den Ressorts, in denen sie sich bewegen, sind in der Regel genauso wenig vorhanden wie das Beherrschen von Verfahrenswerkzeugen. Sie werden getrieben durch die emotionale Verfasstheit der Twitterwelt und haben nichts anderes mehr im Sinn, als diese zu bedienen. Die Anbindung an diejenigen, die im Land den Laden am Laufen halten, ist durch ihre  Karrieresozialisation nicht mehr vorhanden, die Arbeits- und Berufswelt ist in diesem System nicht mehr vertreten. Letzteres ist das gravierendste Verhängnis. 

Ich rief dann meinerseits Cut! Wenn die Defizite so gravierend sind, wenn mit einfacher Logik nichts mehr auszurichten ist, auch weil sie nicht verstanden wird, dann ist ein Kurs vorgezeichnet, der sehr, sehr schmerzhaft werden wird. Für alle Beteiligten.

Für ein Lexikon der psychologischen Regierungs- und Meinungsführung

Tatsächlich leben wir in einer Zeit, in der Komplexität allgegenwärtig ist und folglich die Neigung, Komplexität herzustellen, vielen als eine Tugend gilt. Selbst bei den einfachsten Sachverhalten versuchen die gewieften Methodencracks unserer Tage, eine derartige Komplexität herzustellen, dass eine Entscheidung, wie mit dem Sachverhalt umzugehen ist, in weite Ferne rückt. Denn eines ist gewiß. Je komplexer eine Sache, desto schwieriger ist es, zu Entscheidungen zu kommen und damit umzugehen. Salopp ausgedrückt ist die Produktion von Komplexität zu einem Massensport geworden, an dem sich viele beteiligen, ohne die bitteren Konsequenzen vor Augen zu haben: Stillstand.

Neben den täglichen Routinen und Petitessen existieren selbstverständlich tatsächlich große Zusammenhänge, die komplex sind und in ihrem Gesamtbild kaum zu fassen sind. Naheliegend und wahrscheinlich auch beabsichtigt ist es, dass die Betrachtenden dann die berühmte Flinte ins Korn werfen und sich von dem unverdaulichen Gesamtbild abwenden. Eine Alternative kann darin bestehen, aus dem Großen Ganzen kleinere Partikel und Fragmente herauszulösen. Sie können gut beschrieben und analysiert werden und danach wieder in das Gesamtbild eingefügt werden. Je mehr von diesen kleinen Laborarbeiten erledigt sind, desto weniger Unbekannte hat das große Panorama an der Wand. 

Zu reden ist über das gegenwärtige System der Regierungs- und Meinungsführung. Es ist für viele unbefriedigend, aber nicht zu fassen. Sicher scheint mir zu sein, dass es sich um kein Intrigenstück weniger dunkler Intriganten handelt, sondern um ein sich über einen relativ langen Zeitraum peu a peu eingespieltes System, das teils aus Argumentationsmustern und teils aus Instrumenten besteht. Insgesamt wirkt dieses System desaströs, weil es die Welt, so wie sie ist, dem Urteil des kühlen Kopffes entzieht und ein verworrenes, emotional aufgeladenes Theater inszeniert, das von Gastspiel zu Gastspiel hastet und dem Publikum vor allem eines beschert: die größtmögliche Verwirrung. 

Zu dem argumentativen Arsenal gehören Floskeln wie Europahasser, Verschwörungstheoretiker, Putinversteher oder Klimaleugner. Sie sind gesetzt und etabliert und haben als Massenwirkung zur Folge, dass sich viele Menschen nicht mehr trauen, gegen eine imperiale, wirtschaftslibertäre Europapolitik, gegen eine militärische Ostexpansion oder für eine tatsächlich konsequente Klimapolitik, die sich nicht mit Alibigeplänkeln wie der E-Mobilität abspeisen lässt, aufzubegehren, weil die Konsequenz in allgemeiner Bezichtigung der Unzurechnungsfähigkeit endet. 

Ein anderes, blendend eingespieltes Instrument ist die Symbolpolitik, bei der es vornehmlich darum geht, etwas durchzuspielen, das nichts verändert, das lediglich symbolischen Charakter hat, aber die Emotionen genügend mobilisiert und alle in einem erschöpften Zustand ohne zählbares Ergebnis zurücklässt. Eskortiert wird das seit einiger Zeit von dem, was man gerne anderen vorwirft und das den – woher sollte es auch sonst kommen! – aus den Propagandaagenturen der Jetztzeit gestylten Namen des Derailing trägt. Für sich bereits eine Diskriminierung, weil er im Deutschen nichts anderes meint als eine Entgleisung, soll er dazu dienen, Zusammenhänge, sollten sie denn herzustellen sein, zu verhindern.  

Ein Beispiel für den Derailing-Vorwurf ist die Geschichte mit Trumps Telefonat mit dem neuen Präsidenten der Ukraine. Die amerikanischen Demokraten werfen ihm vor, seine innenpolitischen Interessen mit seinem Amt vermischt und auch noch ausgetragen zu haben. Deshalb die Initiative der Amtsenthebung. Konsequent ausgeblendet blieb bis heute der Anlass. Was haben Biden und sein Sohn in der Ukraine getrieben? Die Fakten machen klar, dass Joe Biden ebenfalls und noch stärker der Vorwurf zu machen ist, den die Demokraten gegen Trump erheben. Ein Verweis darauf gilt jedoch als Derailing, als Entgleisung.

Die Notwendigkeit eines Kompendiums, in dem die zeitgenössischen Killerphrasen und Verdunkelungsinstrumente beschrieben sind, ist an der Zeit. Nehmen Sie die angerissenen Gedanken als einen Vorschlag für eine Initiative zu einem Lexikon der psychologischen Regierungs- und Meinungsführung.

Ein Plädoyer für die humane Erzählung

Ein Mantra, das sich verbreitet hat, lautet, die Welt sei zu komplex geworden, als dass sie einfache Antworten zulasse. Dagegen ist generell nichts zu sagen, denn jede Erscheinung, die mit unterschiedlichen Kausalitäten verbunden ist sich in einem Netz von Interdependenzen befindet, muss gründlich analysiert und differenziert beurteilt werden. Was nicht dazu passt, ist die Tendenz der zunehmenden Verarmung der Texte. Nicht, dass es auch Texte gäbe, die schwer zu lesen oder gar unlesbar sind. Es sind jedoch zumeist Konvolute mangelnder Struktur, die als Symptom einer wachsenden Unfähigkeit gelten müssen, gut strukturierte, gedanklich geordnete und sprachlich interessante Schriftstücke zu verfassen. Der Rückschluss ist beklemmend: Die Welt wird komplexer und die Fähigkeit, sie darzustellen, schwindet.

Die Suche nach Ursachen ist nicht schwer. Immer weniger wird von den Menschen, die in den komplexen Strukturen tätig sind, verlangt, dass sie in der Lage sind, die besagten Zusammenhänge schriftlich darzustellen. Stattdessen hat sich ein Modus breit gemacht, der gerade auf die unzulässige Vereinfachung abzielt. Statt wohl dosierter Sätze sind Skizzen, Bilder oder einfache Formeln gefragt, die die besagte Komplexität vereinfachen sollen. Dass gerade diejenigen, die sich auf die Komplexität der Welt berufen, genau dieser Fährte folgen, macht sie nicht glaubwürdiger.

Ist es tatsächlich so einfach, die Reduktion der verschriftlichten Komplexität auf die zunehmende Kommunikation im Maschinenmodus zurückzuführen? In Ansätzen sicherlich. Wenn bereits von jungen Menschen, die erlernen sollten, mit welchen geistigen Werkzeugen sie die Welt erfassen und mit denen sie sich ausdrücken können, nicht mehr darin gefordert werden und es stattdessen zum Alltagsmodus gehört, in fragmentierten Sätzen, gespickt mit Emoji, zu kommunizieren, kann nicht vorausgesetzt werden, sich mit komplexen Texten auseinanderzusetzen zu können. Es geht hier nicht um die Hegel´sche Rechtsphilosophie, aber ein Roman wie Umberto Ecos Foucaultsches Pendel sollte es schon sein. Und diejenigen, die den politischen Diskurs via Amt führen, sollten auch das können, aber auch noch mehr.

Neben der abnehmenden Sprach- und Schreibkompetenz ist zudem zu beklagen, und das ist interessanterweise ein breiter Konsens, dass es dem gesellschaftlichen Diskurs an Narrativen mangelt. Es geht darum, dass Geschichten gewoben werden, die von allen verstanden werden und die die Probleme fokussieren, an denen sich eine Gesellschaft abarbeitet. Politische Kommunikation kann nur dann gelingen, wenn alle wissen, worüber geredet wird und wenn sich ein gemeinsamer Wille entwickelt, an einer Strategie zu arbeiten. Es bedarf der Fähigkeit, diese Geschichten zu weben. Mit bloßen Statistiken und Grafiken ist das nicht zu leisten.

Die hohe Kunst der Erzählung ist es, anhand einfacher Dinge und Begebenheiten die Komplexität der menschlichen Existenz zu verdeutlichen. In der Vergangenheit konnten das einige. Das ganze Ensemble der europäischen Realisten gehörte dazu, ebenso die großen russischen und amerikanischen Erzähler. Sie trugen dazu bei, den Menschen sowohl ihre Epoche zu erklären, ihnen zu verdeutlichen, worauf es ankam und was dem Gestaltungswillen der Menschen unterlag, als auch zu beschreiben, welche menschlichen Aporien nicht einfach durch welche Maßnahmen auch immer aufzulösen sind. Sie trugen dazu bei, auch die politische, die gesellschaftliche Kommunikation in ihren Kultur- und Zivilisationsräumen aufrecht zu erhalten.

Bis auf wenige Ausnahmen sind diese Erzähler von der Bildfläche verschwunden. Nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Politik. Es ist an der Zeit, dem restringierten Maschinencode wieder etwas entgegenzusetzen. Es ist ein Plädoyer für die humane Erzählung.