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Die Mittagsbrezel

Ja, in der Literatur der 1920iger Jahre, da tauchten plötzlich Figuren auf, die vorher so gar nicht existierten, die niemand auf dem Schirm hatte und die aus dem Boden schossen wie die Waldpilze. Weltverbesserer, Mystiker, Reformbewegte, Sterndeuter, Sonnenanbeter, Verdauungsphilosophen und Verschwörungstheoretiker. Als hätte die damalige Gesellschaft wie ein Seismograph reagiert auf die bevorstehende Katastrophe, die den europäischen Kontinent heimsuchen sollte wie kein Ereignis zuvor. Das irre Funkeln in den Augen, flüsterten diese schrägen Gestalten ihre Phantasien und Horrorszenarien in das Halblicht der Handlung. Die Literaten, die das beschrieben, hielten sich an ihre Beobachtungsgabe, ohne das, was sie da beobachteten, zeitgleich zu deuten zu vermögen.

Erst bei Werken, die nach Eintreten der großen Katastrophe erschienen, begannen die Interpretationen, die der wachsenden Zahl irrlichternder Individuen eine Art Frühwarncharakter für den großen Knall zuwiesen. Widersprochen wurde dem nie, aber so interessant, dass es eine Debatte mit Für und Wider gegeben hätte, war es bis heute auch nicht. Um offen zu sein: Ich glaube an die These, dass eine ansteigende Anzahl von Lunatics ein Indiz für einer vehemente gesellschaftliche Krisenentwicklung ist.

Umso mehr besorgt mich ein Erlebnis, das ich gestern hatte. Nach einer längeren Sitzung am Vormittag und einer weiteren, wichtigen, eine gute Stunde später entschied ich mich, nur eine kurze, informelle Auszeit zu nehmen, um den Mittag zu überbrücken. So fuhr ich mit dem Fahrrad in einen Stadtteil, von dem ich wusste, dass es dort mehrere ganz gute Cafés gab, wo man formlos und leger eine Kleinigkeit zu sich nehmen konnte. Dort angekommen, entschied ich mich sogar für eine Bäckerei, kaufte zwei Brezeln und einen Kaffee und setzte mich direkt auf eine kleine Bank auf dem Trottoir direkt vor dem Schaufenster und begann das Gekaufte zu konsumieren. Dabei beobachtete ich das Treiben in der lebhaften Straße und genoss das Grundrauschen des Alltags. Was ich nicht bemerkt hatte, war ein auch auf der Bank sitzender Nachbar. Erst als dieser begann, mich in ein Gespräch zu verwickeln, nahm ich ihn wahr.

Ganz harmlos sprach mich ein ungefähr siebzigjähriger Mann an, der zwischen seinen Füßen eine angetrunkene Flasche Bier stehen hatte und in der Hand einen Kaffeebecher aus Styropor hielt. Stellen Sie sich vor, so begann er, die da drüben, und dabei wies er auf ein Café vis-a-vis, nehmen doch tatsächlich für einen Kaffee Einssechzig, die sind doch völlig verrückt geworden. Und hier, da nehmen sie Einszwanzig, da ist doch klar, wohin man geht. Abwesend und vielleicht auch etwas abweisend stimmte ich dem Mann zu, signalisierte aber wohl durch meine Körpersprache, dass ich ganz gerne einige Minuten mit mir allein gewesen wäre. Aber wie so oft im Leben, mein Signal wurde gänzlich anders aufgenommen von dem Mann, der durchschnittsgepflegt und -gekleidet aussah und keinerlei Verwahrlosung vermuten ließ.

Wissen Sie, so spann er seinen Faden weiter, nicht, dass ich so knapp wäre, dass ich bei einem Tässchen Kaffee gleich rechnen müsste, denn meine Rente ist nicht schlecht, aber bescheuert, bescheuert bin ich schon lange nicht. Und, ehe ich mich versah, befand ich mich in einer wilden Geschichte, die ich aufgrund ihrer Vehemenz, ihres Tempos, ihrer wachsenden Lautstärke und meiner nach dem Verzehr der Brezel abrupt beschlossenen Flucht nur noch bruchstückhaft in Erinnerung habe.

Es begann mit einem Ärztekomplott, einer jener typischen Veranstaltung der Faschisten in Weiß, die ihm, meinem Nachbarn, doch alle Diabetes diagnostizierten, wo er doch kerngesund sei. Diese dreckige Mischpoke jedoch wolle ihn mit den der Krankheit zugedachten Medikamenten Schachmatt setzen. Aber da, so der immer lauter werdende Banknachbar, da müssten diese Schlafmützen früher aufstehen. Die Killerdrogen hätte er entweder gleich vor der Apotheke in den Gully gekippt oder später zuhause ins Scheißhaus geworfen. Nun, etwas erstaunlich, bekam sein Gesicht einen milden Zug und er sinnierte, immer noch gleich laut, über die Weißkittel nach, die natürlich auch nur Oper seien.

Die eigentlichen Schweinehunde seinen nämlich die Staatsbullen. Die hätten es schon immer auf ihn abgesehen. Aber, und nun war er so laut, dass vorbeigehende Passanten auch mich fragend anzusehen begannen, diese Arschlöcher sollten sich bloß nicht so sicher sein. Seit Jahrzehnten verfolge er ihr abgekartetes Spiel, tausendmal hätten sie versucht, ihn zur Strecke zu bringen, aber immer, immer sei er diesen Halbintelligenzlern auf die Schliche gekommen. Mit seinem Namen, und jetzt wurde es nahezu literarisch, mit meinem Namen, so schrie er völlig ungehemmt über die Straße, ist euer Scheitern verbunden. Nun saß er auch nicht mehr, sondern er stand auf der Bank, hatte die Faust geballt und drohte nun, so wie es aussah, dem ganzen Viertel. Passt gut auf Freunde, ich habe das lautlose Töten gelernt. Wenn ihr glaubt, mich fertigmachen zu können, dann seid ihr schief gewickelt. Ohne dass einer was hört, wringe ich euch euer armseliges Dasein aus, bevor ihr was merkt, liegt euer hässlicher Kadaver hier im Rinnstein.

Als nun doch der Verkehr zum Erliegen kam, bezog mich der schrille Zeitgenosse wieder in seine heißblütige Eloge mit ein. Verstehen Sie, ich habe das lautlose Töten gelernt und wissen Sie was, das Wichtigste wissen diese bekloppten Staatbullen noch gar nicht! Ich bin nämlich mit Graf Stauffenberg befreundet!

Nun bekam ich die Vision, dass ein längeres Verweilen auf ein und derselben Bank eventuell dazu führen könnte, dass ich mit dem Rhetor der Straße in fürsorgliches Gewahrsam genommen werden könnte. Meine Brezel war verzehrt und so sprang ich, nicht ohne kollegialen Wink zu dem Killer und Stauffenbergfreund und zur Verwunderung einiger Passanten auf mein Fahrrad und machte mich von dannen. Auch Stunden später noch dachte ich immer wieder an das kleine Erlebnis. So irrsinnig vieles auch klang, diese Bankbekanntschaft hatte mich heftig zum Nachdenken gebracht.

Luz

Manchmal ist es sinnvoller, die Komplexität des Daseins mit seinen unterschiedlichen Wirkungsfaktoren zunächst auszublenden. Die einfache Beobachtung allein reicht in glücklichen Momenten aus, um das ganze Gewebe um das Sein von selbst hervorzuzaubern. Da braucht es weder geographische noch kalendarische Daten, weil das Profane alles verrät. Der Mikrokosmos ist oft stärker als die ganze Wucht des Makrokosmos.

Auf einem Platz vor einem kleinen Café direkt am Meer, wo vorwiegend Gäste aus England verkehrten, die vor allem wegen der dort angebotenen Scones mit Clotted Cream erschienen, bediente eine junge Frau. Sie bestach durch ihre Übersicht und Eloquenz. Die junge Frau ging von Tisch zu Tisch, während sie stets alle Gäste im Auge behielt. Bei jeder Bestellung und jeder Auslieferung unterhielt sie sich mit den verschiedenen Gästen. Hier war es eine kurze Unterhaltung auf Englisch, dort verfiel sie ins Portugiesische oder Spanische, mal brillierte sie mit einem guten Deutsch und selbst Niederländisch hatte sie in ihrem Repertoire. Über ihre sprachliche Kompetenz hinaus wirkte sie mit ihrer Fähigkeit, auf die konkreten Bedürfnisse und die unterschiedlichen Vorstellungswelten der Gäste einzugehen. Letztere dankten es ihr mit freundlichen Gesten und üppigen Trinkgeldern.

Doch da war etwas, was auch auffiel. Immer, wenn sie zurück in das kleine Café ging, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie wurde ernst. Ab und zu rauchte sie eine Zigarette mit dem Staff hinter der Theke. Dann wirkte sie sehr geschäftsmäßig und unterschied sich in keiner Weise von den zumeist gestressten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer jeden Gastronomie. Und jedes Mal, wenn sie zurück auf den frei liegenden Platz mit den Tischen kam, der eine wunderbare Sicht auf das Meer bot, verwandelte sie sich in die Meisterin der Interaktion, die allen Gästen so sehr gefiel. Sie war schätzungsweise dreißig Jahre alt, sah sehr gut aus und verriet durch ihre Physiognomie eine gewisse Extravaganz.

Wie gesagt, bei genauer Betrachtung fiel ein sich immer wieder vollziehender Rollenwechsel auf. Wenn sie ins Café ging, dann schien es, als kehrte sie hinter die Kulissen zurück. Und immer, wenn sie von neuem auf dem Platz erschien, wirkte es, als betrete sie eine Bühne. So verwunderte es eigentlich nicht, als sich in einem Gespräch herausstellte, dass sie von Beruf Schauspielerin war und im fernen Lissabon gearbeitet hatte. Auf die Frage, was sie hierher, ans Meer, in einen Ort getrieben habe, in dem sich Touristen aus anderen Ländern herumtrieben, antwortete sie, dass ihre Bühne habe schließen müssen, weil es keine Zuschüsse mehr gegeben habe. Aber, und das schoss aus ihr heraus, obwohl sie gar nicht gefragt wurde, als Kellnerin verdiene sie nicht nur besser als in ihrem eigentlichen Beruf, sondern die Einkünfte seien sogar regelmäßig und sie habe geregelte Arbeitszeiten.

Dennoch wurde deutlich, dass sie etwas vermisste, das ihre von ihr gewählte Rolle mit den Scones nicht kompensieren konnte. Wie es so ist, derartige Gespräche setzen sich manchmal nach Tagen fort. Und so ergab sich, dass sie an einem Nachmittag, an dem relativ wenig Betrieb war und sich über dem Meer Wolken gebildet hatten, mehr von sich gab, als es ihr ihre Rolle erlaubt hätte. Da wurde deutlich, dass ihr Lebenstraum zerstört worden war. Nicht nur ihre Bühne, so berichtete sie, hätte schließen müssen, sondern alle Bühnen und Arrangements, die noch irgend eine Möglichkeit geboten hätten, in ihrem Beruf als Schauspielerin weiter zu arbeiten. Sie töten alles, sagte sie, sie töten alles in Portugal, die Kultur und die Hoffnung. Dabei blickte sie aufs Meer und für einen kurzen Augenblick traten dieser so lebenslustig wirkenden Frau Tränen in die Augen. Doch ehe sie in sich zusammenbrach, fand sie Halt am Horizont und sie zwang sich ein Lächeln zurück ins Gesicht. Wie gesagt, die Frau hatte Talent. Als sie den Tisch abräumte, hätte das auch eine Metapher sein können für die Jugend Europas. In Luz, am Meer, als die Wolken am Himmel waren.