Von der Liebe, vom Untergang und vom richtigen Augenblick

International, vor allem im Englisch sprachigen Raum zelebriert und prämiert, tut sich das Publikum im eigenen Land mit ihr schwer.  Jenny Erpenbeck, jüngst zusammen mit dem Übersetzer Michael Hofmann mit dem International Booker Prize 2024 in London ausgezeichnet, hat besonders mit dem Roman Kairos, dem dieser Preis galt, den deutschen Leser vielleicht zu sehr gefordert. Die Reaktionen sind, hat man sich selbst an die Lektüre gemacht, nicht so ganz zu verstehen. Während die einen davon reden, es handele sich eher um ein nicht verarbeitetes DDR-Trauma, sind den anderen die Sprache zu schwer und die Metaphern zu anspruchsvoll. Wäre es nicht ein Testat für den gegenwärtigen Zustand einer durch luftige und fluffige Literatur einerseits und eine eigentümliche Sozialesoterik verdorbene Lesefähigkeit, könnte man diese Zweifel auch als ein Gütezeichen verstehen. Wenn es nicht so traurig wäre.

Denn das, was Jenny Erpenbeck in Kairos darbietet, ist zum einen die ganze Tragweite wie Tragik einer Liebesbeziehung, die Generationen zu überbrücken hat. Ein alternder Intellektueller trifft auf eine blutjunge Frau, die nicht auf den Kopf gefallen ist und etwas sucht, was sie in diesem Mann nie finden wird. Und ihm geht es nicht anders, denn die große Illusion der ewigen Jugend wäre nichts anderes als ein uraltes Thema, wenn seine verzweifelten Versuche, dieses Glück zu finden und festzuhalten, nicht mit Verhaltensformen korrespondierte, die in aller Ekelhaftigkeit einen autoritären Charakter bloßlegten, die das politische System verkörperte, das mit dem Scheitern der Beziehung auch seinen Niedergang beschritt.

Und auch das lässt Erpenbeck nicht so einfach wirken. Denn in der Figur der jungen Frau finden sich die Ansätze einer emanzipatorischen Logik, die eben auch in diesem System zuhause waren und mit allem, was dazu gehört, in der gesellschaftlichen Verwesung endete. Das ist tatsächlich keine einfache Kost. Da sieht man zum einen ein kulturelles Niveau bei denen, die dem Untergang entgegen gehen, da trumpft die Agilität einer Erneuerung auf, zu der es nicht mehr kommt. Was bleibt, sind nichts als Narben. Die der tatsächlichen Verletzung und die der nicht genutzten Möglichkeiten.

Lesen kann man Kairos als die Geschichte einer ungleichen Beziehung, oder als ein Sittenbild der untergehenden DDR, oder als eine Moritat vom menschlichen Scheitern in unruhigen Zeiten. Dass diese vielschichtige, tragische Geschichte dennoch den Titel Kairos trägt, d.h. mit dem Gott der griechischen Mythologie bezeichnet wird, den man nur in einem einzigen Augenblick an seiner Stirnlocke erfassen kann, deutet auf den Verweis, dass es auf den richtigen Moment ankommt. Die Textur, die Erpenbeck in diesem aufregenden Roman bietet, beinhaltet eine unverschämte, burschikose und alles andere als befriedete Perspektive. Man sollte sich die Zeit nehmen, sich darüber Gedanken zu machen, was alles hätte geschehen können, wenn wir Deutschen damals, als die DDR unterging und ein Kanzler aus dem Westen Kairos sah und sofort zugriff, wenn da die alten Intellektuellen und die aufstrebende, neugierige Jugend schneller gewesen wären und Kairos beim Schopf gepackt hätten? Dass darüber im heutigen Germanistan niemand nachdenken will, ist nahezu folgerichtig. Aber der Roman Erpenbecks gibt allen, die sich zutrauen, das auszuhalten, diese Möglichkeit. Kairos! 

Ein Gedanke zu „Von der Liebe, vom Untergang und vom richtigen Augenblick

  1. mikesch1234

    Habe es zum Wochenende erhalten. Ist dann an der Reihe – nach GRM von Sibylle Berg.
    Ich freue mich drauf und bin jetzt nochmals gespannter … neugierig.

    Danke für die liebevolle, respektvolle Rezension.

    Hille

    Antwort

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..