Spieglein, Spieglein, an der Wand!

In Zeiten der existenziellen Polarisierung ist es schwer, ehrlich zu sein. Ständig fühlt man sich von Kontrahenten beobachtet. Und immer soll es vermieden werden, den eigenen Standpunkt zu verwässern. Es existiert, abgesehen von therapeutisch eskortierten Methoden, nur eine Möglichkeit, um ganz in sich zu gehen und die eigenen Züge zu studieren. Wir haben in unserem kollektiven Gedächtnis eine Erzählung, die dem nahe kommt, auch wenn die Geschichte dort ganz anders verläuft als es hier gewollt ist. Es ist die Befragung des Spiegels. Stellen wir uns vor den Spiegel, alleine, ohne Störung, und sehen uns an. Und fragen wir das tote Ding mit einer schlichten physikalischen Wirkung bitte nicht, wer der oder die Schönste, Schlaueste oder Vernünftigste im ganzen Land ist.

Nein, sehen wir uns in die Augen. Betrachten wird die Falten und Narben, entschlüsseln wir, ob wir gezeichnet sind von einem großen Lebenswillen, vom Hang zur Zuversicht oder sind wir Zeugen von Trauer und Melancholie? Wenn wir ehrlich zu uns sind, dann können wir das lesen. Und fragen wir uns dann bitte nicht, wer dafür verantwortlich ist, dass wir vielleicht nicht so sind, wie wir es uns wünschen. Und suchen wir nach Indizien, ob wir, als Individuen, alles das tun, was wir im Austausch von allen anderen, mit denen wir interagieren, getan haben oder tun. Im Jubiläumsjahr des großen, kleinen Immanuel Kant dürfen wir uns diese Art der Libertinage durchaus einmal gönnen. Alles, was wir in uns sehen, ist eine Muster dessen, wie es auch den anderen ergeht, wenn sie sich dieser Probe unterziehen. Es muss heißen, Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Ehrlichste im ganzen Land? 

Und die Ergebnisse, diese Nachricht kann leider nicht der Zensur zum Opfer fallen, sind verheerend. Wir befinden uns im Zustand der allgemeinen und allseitigen Schuldzuweisung. Alle sind Opfer der Verhältnisse und niemand steht zu dem, was er oder sie verursacht hat. Ja, es wird schmerzen, aber das einzige, was uns noch retten kann, ist die bedingungslose Analyse unserer Selbst und das absolute Bekenntnis zur Wahrheit. Und jede Form der Erregung steht dieser Suche im Weg. Wahrscheinlich wird sie deshalb so zelebriert. 

Denn, wenn die Idee der Demokratie überhaupt noch einen Sinn vermittelt, dann ist es die Offenlegung der Ziele und Wünsche aller und die Sezierung der Motive. Wer jetzt sein Handeln nur noch im Fehlverhalten anderer begründet, erweist sich im demokratischen System als untauglich. Es muss ein konsensuales Grundmuster vorliegen und erarbeitet werden. Wollen wir in Frieden leben? Wollen wir selbstbestimmt unsere Geschicke bestimmen können? Auf welchen Niveau der Zivilisation wollen wir uns bewegen? Darum geht es, nicht um mehr, aber auch nicht um weniger.

Und wir stehen immer noch vor dem Spiegel und müssen uns fragen, ob wir es sind, die das Debakel mitverursachen, dass wir nicht mehr aufeinander hören, dass wir virtuos sind in der Verurteilung anderer, dass wir so uns selbst als Opfer alles Schlechten exkulpieren? Das legendäre Spieglein hilft nicht nur, das eigene Ich mit der Wahrheit zu konfrontieren, sondern auch, alle zu identifizieren, die der Wahrheit die Treue geschworen haben. Und, niemand solle bei der Übung verzweifeln: Jedes Alter hat seine Schönheit! Und für die Wahrheit ist es nie zu spät! 

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