Ost und West

Der 3. Oktober, offiziell geführt als so etwas wie ein Nationalfeiertag, was schwer fällt, weil die meisten Deutschen nicht zu Unrecht das Gefühl haben, dass hierzulande die Nationenbildung eigentlich nie so richtig gelungen ist, dieser 3. Oktober bekommt in der Retrospektive etwas sehr Monothematisches. Da werden nur noch Bilder der alten DDR gezeichnet, im ersten Jahrzehnt eher trüb und bedrückend, je länger es her ist aber auch differenzierter, mit dem Verweis auf das Menschliche im Unperfekten. Das kann man ertragen, aber es ist wiederum leider nicht dazu geeignet, dem 3. Oktober einen Sinn zu verleihen, weil es die kritische Reflektion auf die deutsche Zweistaatlichkeit und der handelnden Subjekte verweigert.

Neben einer strukturell und systemisch recht angeschlagenen und labilen DDR, die aufgrund ihrer fordernden Kontexte immer noch Erstaunliches geleistet hat, existierte eine BRD, die aufgrund des auserwählten Demonstrationscharakters auf viele Aufgaben und Pflichten, die jedem souveränen Staatswesen obliegen, leichten Herzens verzichten konnte, weil vornehmlich die USA so lästige Dinge wie die Verteidigung und die damit verbundenen Kosten und Schäden generös übernahmen. Irgendwie wuchsen die im Westen auf wie im Garten Eden, aber sie lernten, sich mit Phänomenen zu reiben, sie zu hinterfragen und sich als Subjekte damit auseinander zu setzen. Sie wurden die reflexiven Köpfe der viel zitierten deutschen Zunge, während die Brüder und Schwestern im Osten zu Charakteren heran reiften, die viele Misslichkeiten und Beschränkungen zu überleben in der Lage waren.

Während im Osten das Provisorium kultiviert wurde, verschlief der Westen wie in einem Bacchanal die wichtigen Reformherausforderungen. Aus der privilegierten Stellung wurde eine Wohlstandsverwahrlosung, die die heran nahende Stunde der Souveränität und Eigenverantwortlichkeit mächtig verschlief. Die globale Dynamik, die sich auch in der Auflösung der geo-strategisch bipolaren Welt Ausdruck verschaffte, wurde gerade durch den heute so gefeierten Architekten der Deutschen Einheit, Helmut Kohl, als Kanzler der alten BRD bräsig ignoriert. Und wie toll fand man sich dann im Westen, als man trotz der eigenen Innovationsresistenz dann noch im Osten wie der Himmelsstürmer auftreten und Systeme und Strukturen verkaufen konnte, unter denen heute alle gleichmäßig zu leiden haben.

Die mehr als zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung waren eine Anpassung des Ostens an die Systematik des Westens und die Eroberung der Machtpositionen durch Individuen aus dem alten Osten. Staatsideologie wurde ein Bekenntnis zur Demokratie bei gleichzeitiger Huldigung des Staatsmonopols und der Beibehaltung des larmoyanten Untertons in Ost und West. Bei letzterem gab es den geringsten Anpassungsbedarf auf beiden Seiten.

Betrachtet man die Festivitäten zum 3. Oktober 2012, dann fällt auf, dass trotz der unendlichen Defizite in der Klärung essentieller Fragen eines Nationalstaates so getan wird, als sei das alles irrelevant. Wer sind wir? Wohin wollen wir? Was ist uns wichtig? Und welche Rolle wollen wir spielen? Alles sekundär, so könnte man meinen, wenn man sich die Rhetorik der vergangenen Tage ansieht, in denen man viel von Europa und den europäischen Erfordernissen liest, ohne in der Lage zu sein, Auskünfte auf die deutsche Rolle in dem Prozess Europa geben zu können. Das ist die alte Krankheit, unter denen die großen politischen Architekten deutscher Provenienz leiden. Sie entwerfen kolossale Bauten, ohne einen Gedanken an die Fundamente zu verschwenden.