Aushalten! Weitermachen!

Der Philosoph Herbert Marcuse, dessen Biographie sich liest wie ein gelungener Duktus zur Charakterisierung der neueren deutschen Geschichte, liegt nach einer langen Reise auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. Berlin war seine Heimatstadt, dort hatte er sich blutjung in einem Arbeiter- und Soldatenrat engagiert, hatte später studiert und ging, wie sollte es anders sein, wenn das Leben eines intellektuellen Juden nicht in irgendwelchen Folterkellern oder in einem Vernichtungslager endete, ins Exil nach New York. Dort arbeitete er, lehrte er, war eine Inspiration für die studentische Protestbewegung Ende der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts und blieb. Herbert Marcuse wurde Amerikaner. Bei einem Besuch in Deutschland 1979, ausgerechnet bei Jürgen Habermas, verstarb er an einem Hirnschlag am Starnberger See. Seine Überreste wurden in Österreich verbrannt, die Asche ging zurück in die USA und die Urne  verschwand irgendwo, bis sie seine Söhne fanden und 2003 beschlossen, sie dorthin zu bringen, wo für Marcuse alles begonnen hatte. Der Grabstein Marcuses ist schlicht gehalten. Was ihn außergewöhnlich macht, ist die dort in Stein gemeißelte Aufforderung: Weitermachen! 

Die Vorstellung, das Leben aus einem Zustand der Unterdrückung und Bevormundung zu befreien, heißt, das wissen alle, die sich diesem Unterfangen gewidmet haben, dass es immer wieder Zustände gibt, die nicht dazu geeignet sind, euphorisch zu werden. Man kann die Geschichte der Emanzipation auch so sehen: sie ist eine Anreihung von Rückschlägen, von Widrigkeiten und Niederlagen. Wer dabei stehen bleibt und sich nicht verdeutlicht, dass das Werk in seiner Dimension vielleicht die eigene Existenz übersteigt, hat alle Voraussetzungen, um in einen Zustand der Depression zu verfallen. Wer allerdings von Beginn an nicht der Illusion verfällt, dass das Werk der Emanzipation mit seiner eigenen Biographie kongruent ist, für den ist es nichts besonderes, wenn auf dem eigenen Grabstein die Parole steht, die Herbert Marcuses Grab in Berlin ziert: Weitermachen! Ohne Bitterkeit, ohne Ressentiment und vor allem ohne Selbstmitleid. 

Das Weitermachen bezieht sich auf den verbleibende Zeitraum der eigenen Vita wie auf die Aufforderung an alle, auch danach aktiv zu bleiben. Und der Zustand, der immer, jeden Tag und überall, erreicht werden muss, um überhaupt an das Weitermachen zu denken, ist der des Aushaltens. Im Sport existiert die Formulierung, dass manche Akteure auch dorthin gehen, wo es weh tut. Es beschreibt, um es kurz zu fassen, so etwas wie ein Löwenherz. Zu wissen, dass etwas schmerzt, es dennoch zu tun, auch wenn man selbst Schaden und Schmerz erleidet. Die Sprache ist von Nehmerqualitäten. Die Formulierung wird im Sport zumeist mit großer Hochachtung benutzt, im gesellschaftlichen Leben ist sie etwas außer Mode gekommen. Bleibt man im Sport und führt sich die Menschen vor Augen, die nahezu Heldenstatus erlangt haben, dann sind es genau die, die dorthin gingen, wo es weh tat, die Giganten des Aushaltens waren. Ihr Heldenstatus dokumentiert, was wir bewundern. 

Das, was heute als smart gilt, hat damit nicht mehr viel zu tun. Es klingt wie eine post-heroische Attitüde. Obwohl auch das eine wertvolle Eigenschaft ist, aber ob sie ausreicht, um die bestehenden Verhältnisse mit ihren Mächten und Besitzständen zu ändern, ist nicht erwiesen. In Zeiten wie diesen, in denen alles im Fluss ist, in denen sich so etwas offenbart wie ein finaler Kampf zwischen Tyrannei und Befreiung, können die Maximen, denen sich jedes Individuum verschreiben muss, das von der Selbstbestimmung überzeugt ist, nicht oft genug wiederholt und beherzigt werden: Aushalten! Weitermachen! 

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