Eine revolutionäre Situation ist dann gegeben, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Dieser Satz wird Lenin zugeschrieben, und zuzutrauen wäre er ihm auf jeden Fall. Denn seine Erfolge feierte er, weil er nicht lange fackelte und es sogar fertig brachte, in einem Bauernland eine proletarische Revolution anzuzetteln. Der Satz ist nicht unbedingt ein Choral der hohen politischen Analyse, und dennoch spricht aus ihm eine nicht rückweisbare Evidenz. Denn tatsächlich, was passiert denn, wenn diejenigen, die die Macht haben, das irgendwie nicht mehr hinkriegen und diejenigen, die beherrscht werden, darauf einfach keine Lust mehr haben? Es wird auf jeden Fall ein Aufbegehren geben. Ob das gar in eine Revolution mündet, ist eine zweite Frage.
Viele verweisen hinsichtlich der momentanen Situation auf dieses Zitat. Es wird immer wieder ins Gedächtnis gerufen, wenn die Verzweiflung über das Regierungshandeln groß ist und die Sprachlosigkeit über das Schweigen der Unzufriedenen sich der Depression nähert. Es ist mehr das Pfeifen im Walde als eine wie auch immer volkstümliche Analyse. Denn: Weder dilettieren die Mächtigen, noch sind die Ohnmächtigen in Aufbruchstimmung.
Das Agieren der Mächtigen ist nichts anderes als ein Austarieren der Möglichkeiten, wie weit sie gehen können mit der lokalen Herabsetzung des Lebensniveaus bei gleichzeitiger Abdeckung des Finanzkrieges und der Ausweitung eines eigenen militärisch-industriellen Komplexes. Alles steht gegen das Narrativ der alten Bundesrepublik und hat mit dem Land der nach Frieden trachtenden sozialen Marktwirtschaft nichts mehr zu tun. Um eine Bevölkerung, die zum größten Teil in diesem Geiste erzogen worden war, auf den dramatischen Kurswechsel vorzubereiten, war es erforderlich, das Bildungssystem zu schwächen, was durch unterlassene Reformen und Investitionen geschah. Sein Einfluss wurde ersetzt durch die neuen Medien, die in der Meinungsbildung beherrscht werden von großen Konzernen, die immer wieder als ideologische Treiber von Kriegen ausgemacht werden können.
Die Erosion eines kritischen öffentlichen Bewusstseins macht es mittlerweile möglich, das eigene Handeln mit nachweislichen Lügen zu begründen und die Motive anderer durch ebensolches Vorgehen zu diskreditieren. Trotz vieler Beschwörungen: Die Medien, inklusive der öffentlich-rechtlichen, sind, was die Standards eines kritischen, reflektierenden und investigativen Journalismus anbetrifft, völlig auf den Hund gekommen.
Wenn dieser Zustand zu den Früchten der Digitalisierung wie der Monopolbildung im Medienbereich gehört, dann ist es durchaus möglich, dass der viel gepriesene Zugang zu allen Quellen dieser Erde zum genauen Gegenteil führt, nämlich inquisitorischer Zustände gegenüber allen, die den Populismus der quantitativen Wahrheitsfindung angreifen. Es wäre nach der Entmündigung in den meisten Arbeitsprozessen die zweite große Bresche, die die Digitalisierung gegen die Emanzipation der arbeitenden Menschen schlüge. Genauer gesagt, nicht die Digitalisierung an sich, aber die irrwitzigen Besitzmonopole, die dort herrschen. Wenn Verhältnisse aufgrund einer absurden Disproportion reif für die Vergesellschaftung waren, dann die der Digitalisierung.
Um noch einmal zu Lenins Zitat zurückzukommen. Es könnte sein, dass ganz plötzlich ganz offen zutage träte, dass diejenigen, die die Macht haben, mit einer Bevölkerung spekuliert hätten, die es so gar nicht gibt. Denn diese ist schlauer, als „da oben“ angenommen. Dann käme auf einmal alles aus dem legendär heiteren Himmel. Dann ist gar kein Aufstand mehr nötig. Dann sind die einen in einem Augenblick Vergangenheit und die anderen plötzlich da.
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