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Infektionsgeschehen

Es existiert keine Lebenssphäre mehr, in der der Begriff nicht auftaucht. Seit einer gefühlt unendlich langen Zeit, immer wieder und sogar zunehmend. Das Infektionsgeschehen, wie es so vieldeutig heißt, bestimmt das Leben. Oder besser gesagt, das Infektionsgeschehen bestimmt, inwieweit sich die politische Administration dazu ermächtigt fühlt, grundsätzliche Freiheitsrechte einzuschränken. Der Streit, der darum entsteht, ist ein uralter im rechtsphilosophischen Sinne. Ist, in Anbetracht der abzuwehrenden Gefahr, die Einschränkung der Freiheit verhältnismäßig? Und angesichts dieser Frage, die so kühl und kalkulatorisch verhandelt werden müsste, entfacht sich ein Feuer, das eher als Indiz für unsere aus den Fugen geratene Zeit gehalten werden kann. Die einen werfen den anderen vor, die Gefahr zu überhöhen, um die Freiheitsrechte zu stürmen. Die anderen wiederum bezichtigen die Gegner der Maßnahmen der Verharmlosung der Gefahr und deklarieren sie selbst damit zum gesellschaftlich unsolidarisch handelnden Gefahrenherd. Ja, das Infektionsgeschehen hat es in sich.

Was bei den Debatten um Maskenschutz, Abstandsregeln, Desinfektion und der Reduktion von Sozialkontakten eher verloren geht, ist die nachhaltige Veränderung, die mit dem Krisenmanagement einhergeht und noch weiter einhergehen wird. Schon jetzt ist zu sehen, dass die Spaltung der Gesellschaft in extrem Reich und extrem Arm beschleunigt wird. Das allein reicht aus, um sich grundsätzliche Fragen zu stellen. Denn eines ist klar: die Armen sterben häufiger als die Reichen. Die einen sitzen eingepfercht in kleinen Wohnungen eng aufeinander, während die anderen in ihren parkähnlichen Gärten flanieren und in großen Räumen vor dem wärmenden Kamin sitzen. Klischees? Ja! Treffen sie zu? Ja, mehr denn je! 

Es wäre hilfreich, die Faktoren, die momentan zum öffentlichen Diskurs gehören, auf dem Sozialatlas zu analysieren. Das immer präsente Infektionsgeschehen wird verstärkt in der Unterschicht ausgeprägt sein ebenso wie die Übersterblichkeit. Es handelt sich zwar nur um eine Prognose, sie ist jedoch ohne großes Risiko. Wer nichts hat, so die bittere Quintessenz nach Jahrzehnten des Wirtschaftsliberalismus, verliert schnell alles, und wer bereits hat, gewinnt schnell dazu. Der globale Markt wird es schon regeln, denn billige Arbeitskräfte lassen sich aus jedem „Shithole“ (Zitat des amerikanischen Präsidenten) so schnell importieren wie Zitronen oder Seltene Erden. Das Modell, mit dem das Infektionsgeschehen konfrontiert ist, ist das Produkt von vierzig Jahren kapitalistischen Triumphgeheuls. Entsprechend human wirkt es sich aus. Wer diese Auswirkungen nur einer Regierung, und zwar der jetzt amtierenden, anlastet, bewegt sich leider nur auf der phänomenologischen Ebene. 

Jenseits der epidemiologischen Dimension bezeichnet das Infektionsgeschehen also auch noch etwas anderes. Es handelt sich dabei um ein bereits langes, aber nicht wirklich bekämpftes Virus. Es ist ein Derivat der kapitalistischen Krankheit, das besonders heimtückisch ist. Es wurde entwickelt in den Labors der Chicago School of Economics, die Laboranten nannten sich kokett die Chicago Boys. Die ersten Mutationen waren gedacht, um Staaten in Südamerika zu destabilisieren und beherrschbar zu machen. Das gestaltete sich als so erfolgreich, dass sie das Virus isolierten und als Prototypen für globale Infektionsvorhaben weiter kultivierten. Heute ist die Krankheit in allen Ländern, in denen der Westen operiert, prächtig entwickelt. Sie bildet die Grundlage für die Zweitindikation namens Corona. Letztere kann sich so verheerend auswirken, weil das erste Virus, das des Wirtschaftsliberalismus, bereits hervorragende Vorarbeit geleistet hat. 

Wenn der Begriff „Infektionsgeschehen“ fällt, sei bitte daran gedacht, dass es sich nicht nur um eine epidemiologische und medizinische Dimension, sondern auch und vor allem um eine politische handelt.

Narrenspiel

Das, was den britischen Meinungsmachern mit dem Brexit gelungen ist, wird, wenn sich die Krise auch in Deutschland zuspitzen wird, noch so manch ein Verfechter des Wirtschaftsliberalismus neidisch betrachten. Denn dort ist gelungen, die EU für alles verantwortlich zu machen, was das Land seit der unseligen Margaret Thatcher erleiden musste. Die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts bildeten den Auftakt für eine europäische Sanierung nach dem Muster der so genannten Chicago Boys, einer amerikanischen Schule der Ökonomie, die alles, was ein Staat leistete, haarfein monetarisierte und dann skandalisierte. Jede staatliche Ausgabe war ein Problem, und alles, was die Menschen brauchten, konnte auch der freie Markt liefern. Es begann eine systematische Privatisierung staatlicher und öffentlicher Leistungen und gleichzeitig wurde ebenso systematisch alles, was an Wertschöpfung auf der Insel noch stattfand, liquidiert. So entstand ein relativ beständiges Heer von vier Millionen potenziellen Proletariern, die niemand mehr brauchte und es begann ein allgemeiner Trend der Verarmung, der in Europa seinesgleichen sucht.

Was die konservative Thatcher begann, setzte der Sozialist Blair fort. Es begann der Umbau der Insel, genauer gesagt Londons, in eines der Hochzentren des internationalen Börsenhandels und der Finanzspekulation bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Regionen mit allem, was dazu gehört: die Verrottung der Infrastruktur, die Verschlechterung von Bildung und vom Gesundheitswesen und ein immer drastischer und reglementierend vorgehendes Sozialwesen. London selbst wurde zu einem Ort artifizieller Existenz. Die Stammbewohner wurden immer mehr aus dem Zentrum heraus gedrängt und dort wohnen, wenn überhaupt, internationale Spekulanten, die sich vor Reichtum nicht mehr retten können. Täglich pendeln ca. Eine halbe Millionen Menschen von nah und fern in die City of London, dort zu wohnen kann sich von diesen niemand mehr leisten.

Die dem Milliardär Murdoch gehörende Presse hetzte in den letzten Jahren gegen alles, was aus Brüssel kam, wenn es um die Beschneidung der Freiheiten ging, von denen seinesgleichen so herrlich profitierten. Sowohl die europäische Initiative gegen Steueroasen wie die Cayman Inseln oder die Isle of Man als auch die Aktivitäten, die von Brüssel gegen die Monopolisierung des Pressewesens ausgingen, veranlassten die Meinungsmacher zu regelrechten propagandistischen Feldzügen gegen die EU. Und darin liegt das Paradoxe, die EU, ihrerseits in den letzten fünfzehn Jahren allzuoft vor allem durch deutsche Interessen zu einem Mittel zur Durchsetzung wirtschaftsliberalistischer Vorstellungen instrumentalisiert, hatte gerade in Großbritannien den Versuch unternommen, die Auswirkungen derselben zu mäßigen. Und dafür wurde sie angegriffen und geschickt für das verantwortlich gemacht, was besonders in Großbritannien durch die systematische Zerstörung des Gemeinwesens als Ergebnis zu erleiden war.

Der Brexit, wie er nun hier in Deutschland kolportiert wird, als ein Akt Verblendeter, war der Wunsch eines großen Teils der Bevölkerung, den sozialen Generalangriff gegen die in Jahrzehnten erkämpften Existenzstandards zu beenden. Stattdessen saßen die meisten denen auf, die ihn betrieben hatten. Und ausgerechnet in diesem Fall stand die EU auf der richtigen Seite, obwohl es schwer fällt, das zu glauben. Die Koinzidenz, die jedoch in die meisten Länder der EU wirkt, ist das gemeinsame Leiden unter den Auswirkungen des Wirtschaftsliberalismus. Was in Großbritannien an Ablenkung gelang, wirkte bei den seit Monaten anhaltenden landesweiten Protesten der Gelbwesten in Frankreich gerade einmal zwei Wochen. Um es einmal sehr wohlwollend auszudrücken: die Bevölkerungen Europas wie die europäischen Institutionen sind derweil das Opfer der selben Ideologie. 

Das harte Brot des Wandels

Es ist mal wieder Zeit für Prinzipielles. Ein Umstand, der tatsächliche oder gefühlte Krisen so unschätzbar wertvoll macht. Denn liefe alles so, wie gewünscht, dann fiele der Stachel der Erkenntnis einfach so zu Boden und eine gewisse Mentalität führte zu einer allenfalls außergewöhnlichen Wurstigkeit. Ein Geist, der seine Unruhe verloren hat, verliert seine Seele und tendiert zur Beliebigkeit. Ob die Krisen unserer Tage tatsächlich neue Ideen hervorbringen, sei dahingestellt. Aber sie veranlassen zumindest die staatlich wirkenden Pädagogen, grundsätzlich alles noch einmal zu erklären.

Und so wurden wir im Falle Griechenlands darüber unterrichtet, dass Schuldenmachen schlecht sei, ein Staat relativ überflüssig und der Markt eigentlich alles regele. Nicht hier, versteht sich, im Kombinat der Guten Hoffnung, aber im Rest der Welt. Da ist die Lehre des Wirtschaftsliberalismus und des Monetarismus, die erfunden wurde an der Chicago School of Economics, namentlich von deren Mentor Milton Friedman. Aufgrund dieser Genese wird alles, was aus diesem Dunstfeld kommt, etwas verniedlichend den Chicago Boys zugeschrieben, obwohl es sich um Vernichtungsfeldzüge gegen die Armen dieser Welt handelt.

Der wohl schlimmste Verfechter dieser Lehre in den USA selbst war George W. Bush, der über zwei Legislaturperioden nicht nur diverse Kriege in Übersee, sondern auch einen Krieg gegen das eigene Volk geführt hat. Dann wurden er und seine Partei in den Wald geschickt, weil die Zeichen auf Wandel standen. Und dann, mit einer Regelmäßigkeit, die phänomenal ist, mit der bekannten Verzögerung von einer Dekade, hat die Lehre in Europa und vor allem in Deutschland Fuß gefasst und wird bis zum Exzess gelebt. Kann es da beruhigen, dass in den USA längst wieder ein Keynesianismus herrscht, der auf soziale Abmilderung des ewigen Kapitalismus setzt? Wann kommt das Umdenken hier an, und wie schizophren und tautologisch kann die hiesige Sozialdemokratie noch werden, beim Tauschen von Prinzipien, die gar keine mehr sind, zumindest nicht für sie?

Und im Falle der Flüchtlinge, da hat das Prinzipielle fast schon den Charakter einer Daseinsfrage. Sein oder Nicht-Sein, so stellt sie sich, wenn zu bedenken ist, ob eine alternde, müde, besitzorientierte Gesellschaft noch die Kraft aufbringt, eine Verjüngungskur durchzustehen, die vieles von ihr abverlangen wird oder ob sich die durchsetzen, die mit einer künstlichen Hüfte und dritten Zähnen auf einer Geldkassette sitzen und bis zur letzten Kugel die schreckliche Tapete in ihrem Wohnzimmer verteidigen wollen? Da helfen keine altruistischen Gesten, wie so sanft empfohlen, sondern nur noch Alternativfragen: Ja oder Nein, willst du sein im Land der Zukunft, dann kämpfe für etwas Neues, und willst du mit dem belanglosen Wohlstand, in dem du schwelgst, in das Land des Tantalus fahren, dann tue das, aber ohne den Namen des Landes, dessen du nicht würdig bist.

Denn alles, womit diejenigen, die sich mit der Reflexion der Möglichkeiten, und nicht der der Gefahren, beschäftigen, hat etwas damit zu tun, dass es erfordert, wie man in der angelsächsischen Welt so schön formuliert, dass die eigene Komfortzone verlassen werden muss. Leben heißt kämpfen, ja, das haben schon so mancher Opa und manche Oma gesagt, aber genau das war das Erbe, das nicht vergessen werden sollte. Denn sie konnten nicht so nonchalant formulieren, dass sie sind, weil sie erkennen. Für sie galt eine härtere Regel: Ich verspüre Schmerzen, also bin ich!