Schlagwort-Archive: Zeitenende

Die Vernichtung der Feigenblätter

Harald Welzer. Zeitenende. Politik ohne Leitbild. Gesellschaft in Gefahr

Wollte man die Verzweiflung derer, die glauben, tatsächlich zu herrschen, am besten beschreiben, dann könnte man es die zunehmende Vernichtung der Feigenblätter nennen. Die nun seit Jahren bestehende Klage aus der Gesellschaft, dass man nicht mehr sagen könne, was man denke, weil man sonst in metaphorischem Sinne aufgespießt würde, wird immer und sofort beantwortet als Hirngespinst. Jeder und jede darf in diesem Land sagen, was er oder sie will! Und nicht selten zeigt man auf medial präsente Figuren, die immer wieder vor laufenden Kameras oder durch Publikationen die Finger in die Wunden legen. Seit Corona, dem Krieg in der Ukraine und nun in Israel/Palästina ist es allerdings selbst für etablierte Kritiker, die den Charakter von Feigenblättern haben, richtig gefährlich geworden. 

Harald Welzer gehört zu jenen Figuren, die es immer wieder geschafft haben, mit kritischen Anmerkungen die Konsens- und Wohlfühlen-Atmosphäre zu stören. Bis dato hat er die Inquisition im Gegensatz zu anderen einigermaßen überstanden. Nichtsdestotrotz sind in seinem neuesten Buch mit dem Titel „Zeitenende. Politik ohne Leitbild. Gesellschaft in Gefahr“ Spuren der Furcht vor den Schergen der reinen Regierungslehre durchaus aufzuspüren. Dennoch ist es ein wichtiges, hilfreiches und über alle Maßen inspirierendes Buch geworden. Systematisch, wie der Mann nun einmal ist, arbeitet er sich an dem rhetorisch vom Kanzler eingeworfenen Begriff der Zeitenwende ab und weist die Unangebrachtheit im Kontext der russischen Invasion in der Ukraine nach. Was ihn allerdings dazu führt, das komplexe Krisengeflecht, in dem wir uns seit längerer Zeit befinden, genauer zu beschreiben. 

Für Welzer steht fest, dass der entscheidende Punkt der Klimawandel ist und dieser die Möglichkeiten zivilisierter menschlicher Existenz radikal in Frage stellt. Die Politik allerdings suggeriert, als würde die eine oder andere Maßnahme zur Lösung des Problems führen. Der Autor verweist allerdings auf die kapitalistische Produktionsweise und der mit ihr einhergehenden Notwendigkeit ständigen Wachstums. Wachstum allerdings bedeutet Verbrauch und Vernichtung von Ressourcen mittels Energie. Daher ist es folgerichtig, dass Welzer von Rückbau von Produktion uns Konsum und die Besinnung auf eine Gesellschaftsordnung, in der das Notwendige zur Verfügung steht, aber die direkte, zivile, kulturelle und bereichernde Kommunikation steht – und nicht der sinnfreie Konsum

Dass der Autor in diesem Kontext auf die Renaissance des Imperialismus verweist, der seinerseits mit der Ausbreitung von Kriegen einhergeht, die alles, was an ökologischen Politikansätzen bereits existiert, ad absurdum führt, ist folgerichtig. Und dass der Imperialismus nicht exklusiv die Idee eines durchgedrehten russischen Despoten ist, bleibt da ein wenig im Hintergrund. Aber, der Verweis sei erlaubt, vielleicht ist diese Unzulänglichkeit der Passierschein, um ohne Vorladung zum medialen Gerichtshof weiter öffentlich seine Meinung vertreten zu dürfen?

In einem weiteren Kapitel dokumentiert der Autor verschiedene ökonomische Ansätze, die bereits existieren und die den Weg zu einer anderen Form gesellschaftlichen Zusammenlebens weisen könnten. Und dass er, quasi als Verarbeitung seines zusammen mit Richard David Precht veröffentlichen Buches „Die vierte Gewalt“ mit der Degenerierung des Journalismus zu staatlicher Propaganda und/oder zur organisierten Treibjagd auf die Politik scharf ins Gericht geht, spricht genauso für ihn wie Ausführungen über die Verselbständigung der Politik als eine von der Bevölkerung abgehobene Klasse. Dieser durch die Reduzierung der Wählbarkeit auf eine Legislaturperiode und vermehren Einsatz von Losverfahren die Grundlage zu entziehen, ist ein einfach zu realisierender wie die Demokratie belebender Vorschlag. 

Und so endet das Buch beim Souverän. Die „Leute“, wie es so schön heißt, sind die Auftraggeber von Politik. Und es liegt in ihrer Hand, denen, die sie verspotten, das Mandat zu entziehen. Welzers Buch bietet in konzentrierter Form eine Revue über nahezu alles, was uns bewegt. Oder bewegen sollte. 

Zur Verselbständigung der politischen Klasse

Immer mehr Menschen unterschiedlicher politischer Lager sind zu dem Schluss gekommen, dass es so nicht mehr weiter gehen kann. Gemeint ist das Selbstverständnis vieler politischer Mandatsträger. Sie scheinen der Auffassung zu sein, dass es ausreicht, blödsinnige Selfies in allen möglichen abstrusen Lebenslagen zu machen, um zu beweisen, dass es sich bei ihnen um bewundernswürdige Individuen handelt. Und tatsächlich: sieht man sich die rudimentären, sinnfreien und zudem oft sprachlich fragwürdigen Texte an, mit denen das oft  motivfreie Grinsen untermalt wird, dann kann man nur zu dem Urteil kommen, dass da etwas vollkommen missverstanden worden ist. Ein politisches Mandat ist und bleibt der Auftrag, im Sinne der gesamten Wählerschaft Ergebnisse zu erzielen und Bedingungen schaffen, die den Interessen der Auftraggeber entsprechen. Es geht nicht um Selbstdarstellung, sondern um die Ausführung eines Auftrages. Und sieht man sich zudem das, welchen Titel manche Gesetze, die da auf den Weg gebracht werden tragen, dann wird klar, dass die Auftraggeber schon lange nicht mehr ernst genommen werden. Und wenn man zudem hört, dass selbst Trägerinnen der Bezeichnung  Minister, der ja bekanntlich Dienen bedeutet, vor laufenden Mikrophonen herumtönen, sie hielten an ihren Positionen fest, auch wenn es den eigenen Wählern nicht gefalle, und es sich dabei um die Frage von Krieg und Frieden handelt, dann ist es keine Übertreibung von einer Staatskrise zu sprechen. 

Es mehren sich die Überlegungen, wie der selbstverliebten Entfernung der politischen Mandatsträger begegnet werden kann. Eine der Überlegungen wurde von dem belgischen Autor David van Reybrouck sehr überzeugend in einer kleinen Abhandlung (Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist) dargelegt, in der er unter anderem nachwies, dass der genuine Gedanke der Mandatierung in der griechischen Genese der Demokratie das Losverfahren gewesen sei. Es hieße, dass bei dem Konstrukt der heutigen Demokratie zumindest verstärkt bei der Erarbeitung von Gesetzen und der Entwicklung von Lösungsansätzen das Los über die aus der Gesellschaft zu rekrutierenden Mitglieder solcher Kommissionen entscheiden sollte. Fachlichen Rat können sich solche Gremien ebenso einkaufen wie Berufspolitiker. Und Beispiele dafür, dass solche Zusammenschlüsse sehr gute Ergebnisse erzielen, liegen bereits vor.

Eine weitere Überlegung wäre, und die stellt Harald Welzer in seinem neuen Buch an (Zeitenende. Politik ohne Leitbild. Gesellschaft in Gefahr), nämlich festzulegen, dass man sich lediglich für eine Legislaturperiode wählen lassen kann. Dann wären die Parlamente voll mit Menschen, die die Höhen und Tiefen einer bürgerlichen Existenz kennen und die wissen, dass sie nach dem Mandat  in die Mitte der Gesellschaft zurückkehren werden und ihre zwischenzeitliche Betätigung zu einem direkten Feedback führen würde.  

In beiden Fällen, dem Losverfahren wie der Beschränkung der Wahrnehmung politischer Funktionen auf eine Wahlperiode, handelte es sich um probate Mittel, um der Verselbständigung einer politischen Klasse zu begegnen. Das Argument, eine solche Konstruktion käme nicht an die Qualität heran, die in einer komplexen, international agierenden Gesellschaft erforderlich sei, muss man nur mit dem konfrontieren, was die Politik in den letzten Jahrzehnten angesichts eines multiplen Krisenmanagements vermocht hat. Die Bilanz ist alles andere als überzeugend. Im Gegensatz dazu steht die Einschätzung, dass die Kernkompetenz eines Gemeinwesens aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Zudem sollte man sich – nach Jahrzehnten des Wirtschaftsliberalismus mit seinen destruktiven Folgen für das Gemeinwesen – von der Illusion verabschieden, es ginge um eine wie auch immer geartete Weiterentwicklung. Nein, es geht um eine Rekonstruktion. Die Fundamente sind durch eine Algorithmus gesteuerte Kommunikation bereits zerstört.