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“Gib mich Knete, mach mich glücklich!“

Wenn alle von Spaltung sprechen, wenn sie davor warnen, dass dieses oder jenes die Gesellschaft noch mehr spalten könnte, dann ist eines gewiss: die Spaltung ist längst vollzogen! Und, wie immer, sind sich alle ziemlich sicher, wer für diese Spaltung verantwortlich ist. Vernünftig wäre es allerdings, angesichts einer äußerst heterogenen Veranstaltung wie einer durch Industrie, internationalen Handel und den Globus umspannende Kommunikation geprägten Gesellschaft zunächst einmal die Frage zu stellen, wie viel Spaltung bzw. wieviel Uniformität eine solche Gesellschaft überhaupt verträgt. Die einen, die von ihrer Diversität schwärmen, leugnen nicht selten die schmerzhaften Schnitte, die soziale Verwerfungen hinterlassen können und die anderen, die die Komplexität verdammen, kommen mit Reinheitsgeboten und der Reduktion auf Uniformes um die Ecke, um ihre Vision einer Alternative anzupreisen. Beides, so meine bescheidene Meinung, führt zu nichts.

Die Frage kann auch anders gestellt werden: Was ist das bindende Glied? Welcher Konsens ist so stark, dass die einzelnen Glieder vieles aushalten, was ihnen nicht so gefällt. Und der erste Punkt, der einem dabei in den Sinn kommt, ist die Feststellung, dass es überhaupt etwas Gemeinsames geben muss. Der Konsens, dass man zusammenleben will und dass man bereit ist, für dieses Zusammenleben auch etwas zu bezahlen und einzubringen. Dass alle Gesellschaften, die historisch dokumentiert sind, immer Glieder aufwiesen, die davon abwichen und sich die Güter unter den Nagel reißen wollten, ist kein Geheimnis. Dass aber die Gesellschaften, die ein konsensuales Bindeglied hatten, diese parasitären Interventionen gut überlebt haben.

Leider ist bei der Bilanzierung unserer Gesellschaft, wie sich sich heute darstellt, zu verzeichnen, dass eine Fliehkraft existiert, die vieles zu dominieren scheint. Der Versuch, sich selbst zu versorgen und kein Auge mehr für die allgemeinen Belange, die res publica zu haben, wirkt wie ein schleichendes Gift in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Und, so wie es aussieht, ist alles, was eigentlich dem Markt und seiner Verwertung entzogen werden und als Sache der Allgemeinheit zu deklarieren und zu leben wäre, bereits vor einiger Zeit der Illusion preisgegeben wurde, durch die Gesetze des Marktes durchaus seine gesellschaftliche Aufgabe erfüllen zu können. Diese grandiose Idee, die immer noch sehr verbreitet ist und die quasi als Staatsräson gilt, hat ihre Spuren hinterlassen. Ob im Gesundheitswesen, in der Bildung oder in der Infrastruktur, überall setzten sich die Marktschreier durch. Die Überzeugung, dass bestimmte Sektoren keine Waren, sondern ein gesellschaftliches Gut sind, für das sich alle verantwortlich fühlen, ist seit dem hysterisch ausgerufenen Ende der Geschichte 1990 ad acta gelegt worden. Dass damit die Produktivität, die Pluralität und der Ideenreichtum der Gesellschaft zu einer standardisiert herstellbaren Ware gemacht wurde, kommt seit einiger Zeit schmerzhaft zur Geltung. 

Der mit dieser Entwicklung gewachsene Konsens, dass jeder seines Glückes Schmied ist, hat die Gesellschaft tatsächlich tief gespalten. Ein großer Teil bleibt außen vor. Und ein kleiner lebt nach dem Motto: Gib mich Knete, mach mich glücklich! Es ist müßig, sich über das eine oder andere Spaltungsmanöver zu echauffieren. Das gab es immer und das gehört zum Spiel der Macht. Die Grundidee, an der sich alles orientiert, ist eine falsche. Und da fragen sich viele Menschen, für die das Leben mehr bedeutet als der Kontostand: Soll das alles gewesen sein?

Kulturelle Aneignung: Kuschen vorm Papiertiger?

Eine Gesellschaft, deren Diskurs sich hauptsächlich auf symbolische Handlungen reduzieren lässt, hat ein Problem. Denn sie bewegt sich durch tatsächliches politisches Handeln nicht von der Stelle oder, noch beunruhigender, die tatsächlichen Entscheidungen werden außerhalb der gesellschaftlichen Wahrnehmung getroffen. Ein Beispiel, das den gesellschaftlichen Diskurs immer wieder beflügelt und ungeheure Emotionen freisetzt, ist das Thema der kulturellen Aneignung.

Die allgemeine Definition lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Kulturelle Aneignung, cultural appropriation, ist die Übernahme von Ausdrucksformen oder Artefakten, Geschichte und Wissensformen von Trägern einer anderen Kultur oder Identität. 

Bei der Begutachtung der zur Verfügung stehenden Kriterien sind vor allem zwei Felder herauszustreichen, auf denen kulturelle Aneignung stattfindet:

  • die ethische Dimension kultureller Aneignung wird dann thematisiert, wenn es Minderheiten trifft, die sozial, politisch, wirtschaftlich oder militärisch benachteiligt sind und die durch die Adaption lächerlich gemacht oder diskriminiert werden sollen.
  • die kulturelle Identität wird zur Ware gemacht und dadurch trivialisiert. 

Betrachtet man Definition wie die wesentlichen Anwendungsfelder, muss attestiert werden, dass es sich dabei um nichts anderes als einen zivilisierten Umgang zwischen Kulturen handelt und es ist nicht anzunehmen, dass das Gros der Bevölkerung sowohl der Definition als auch den wesentlichen Feldern der Empörung widersprechen würde. Denn wer hieße es gut, sich über andere Kulturen lustig zu machen? Ein anderer Fall ist die kommerzielle Verwertung von kulturellen Stereotypen und ihre Mutation zur Ware.

Was auffällt, ist die Konzentration auf den ersten Fall. Da werden die meisten Emotionen mobilisiert, weil dort immer wieder die böse Absicht unterstellt wird. Das Metier, das am meisten unter einer symbolistischen Debatte leidet, ist die Kultur. Denn, nähme man ein Verbot der bloßen Übernahme, egal aus welchem Motiv, ernst, dann gäbe es in den Bereichen Musik, vom Blues und Jazz bis zur Oper, in der Literatur, Joyce ohne Odyssee, um nur ein Beispiel zu nennen, bis hin zur internationalen Küche nichts, was von einem Vergehen gegen einen sektiererischerem Purismus freigesprochen werden könnte. Am Ende stünde die Öde, eine Art Purismus, von dem prä-faschistische Fanatiker nur hätten träumen können.

Anders, und das ist das tatsächlich Prekäre, verhält es sich bei der Trivialisierung anderer Kulturen, in dem man sie zur Ware macht. Auf diesem Feld, wo die tatsächliche Schlacht geschlagen werden müsste, gibt es bezeichnenderweise keine nennenswerten Debatten. Hätten die strahlenden Zeitgeister ein bisschen Marx gelesen, dann wüssten sie, das das Wesen des Kapitalismus in der Warenproduktion liegt und alles, was zur Ware gemacht werden kann auch zur Ware gemacht wird. Da spielt die Musik, da blüht das Geschäft und das Flanieren durch einen deutschen Supermarkt mit der Brille der kulturellen Aneignung würde zu Trunkenheit und Desorientieung führen, bliebe man streng bei der Position, dass alles verbannt werden muss, was kulturelle Identitäten zur Ware macht und damit trivialisiert. 

Da bleiben auch die temperamentvollsten Sektierer erstaunlich ruhig und verschaffen sich Kompensation, wenn sie gleich Bilderstürmern randalierend durch die Tempel der Kultur rasen und ihre Anklagen durch die Gegend brüllen. Vorm Kapitalismus kuschen und in der Kultur wüten, eine Maxime, die auch bei anderen Themen immer wieder auffällt. Es ist die Empörung von Papiertigern.

Und die, die wiederum vor diesen Papiertigern kuschen, weil sie Angst davor haben, von ihnen gefressen zu werden? Wie soll man sie nennen? Und denen, die in diesem Spiel so engagiert sind, sei noch eine Rückmeldung gegeben:

Es ist selbstverständlich, andere Kulturen zu respektieren, zu versuchen, sie aus ihrem historischen Kontext zu verstehen und danach trachten, aus diesem Wissen heraus in einen zivilisierten Dialog zu kommen. Und genau dieses Besteck ist den meisten Eiferern nachweislich abhanden gekommen. 

Ancién Regime

Manche Zitate kehren thematisch immer wieder. Zuweilen sieht das aus wie die Rondo-Formationen im Garten Versailles kurz vor dem Debakel des Ancién Regime. Alle wissen es, alle tanzen auf die Melodie und dennoch glaubt niemand, dass es trotzdem kommt. So ist es mit dem Satz von Berthold Brecht, stell dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin. Wie vieles bei Brecht ist es die Negation der allgemeinen Wirkungslogik, intrinsisch aber dennoch logisch. Das war sein Genius. Er vermochte die Welt auf den Kopf zu stellen und erklärte sie gerade damit. Vielleicht wäre das ein Zugang, der über die alltäglichen Schmerzen hierzulande hülfe.

 Stell dir vor, wir reden über einen Krieg im Osten, anlässlich der Ukraine, und keiner nähme das ernst außer dem Westen. Der bläst sich auf, will dem Despoten Putin mal so richtig zeigen, wie weit er gehen darf, und gleichzeitig betätigt sich Russland an der Schaffung einer völlig neuen Sicherheitsarchitektur, die auf Kooperationen beruht und den Westen Westen sein lässt. Nachweislich passiert das nämlich. Russlands Außendiplomatie konzentriert sich momentan auf die BRICS-Staaten, vor allem die Kooperationen mit Brasilien, Südafrika und China stehen auf Expansionskurs. Gleichzeitig hat sich das Band zum Iran gefestigt. Während sich Europa auch im Nahen oder Mittleren Osten, je nach Perspektive, aus der man es sieht, eher zu einem Störenfried denn zu einem Kooperationspartner entwickelt hat, verliert es zunehmend an Bedeutung. Zudem, weil die Kohäsion mit den transatlantischen USA in letzter Zeit erheblich gelitten hat.

Ja, seit der Theorie der Avantgarde galt es als gesichert, dass es zu den großen, strategischen Vorteilen des Kapitalismus gehöre, in der Lage zu sein, Proteste gegen ihn und seine Funktionsweise rasend schnell dadurch zu entschärfen, als dass er vermöge, die Ideen gegen ihn zu vermarkten und sie damit zu domestizieren. Zwischen den Auftritten der ersten Punker, die einen Schock auslösten und der ersten Punk-Boutique lagen bekanntlich nur wenige Monate. Nun, zum ersten Male, sieht es so aus, dass die Gegenbewegungen gegen den freien Kapitalismus in Form der gesteuerten Märkte aus anderen Gesellschaftssystemen die Oberhand gewinnen. Nicht, weil sie den Charme der intellektuellen oder kulturellen Dominanz besäßen, sondern weil der Trash, den sie produzieren, das einzige noch Übrige sind, was die Geldbeutel der großen Gesellschaftskohorten noch hergeben.

 Der Kapitalismus hat mit dem Übergang zur Börsenspekulation den Zugang zum Reichtum der Warenproduktion in den eigenen Ländern versperrt. Übrig geblieben sind Minderheiten, die sich auf der ganzen Welt den Bauch vollschlagen können und Mehrheiten, deren Träume zerborsten sind und die nur noch existieren können, weil in China mit Lohndumperei, Kasernierung und Umweltverpestung Massenschrott produziert wird, der notwendig ist, um amerikanische, britische und zunehmend zentraleuropäische Märkte zu bedienen, deren waren die jeweiligen Unterschichten noch bezahlen können. Und die politische Stabilität des Westens hängt von diesem Warenstrom ab.

 Da hilft es nicht, sich darüber zu mokieren, dass gerade Russland auf tönernen Füßen steht oder dass China mit seinen 50 Millionen Wanderarbeitern auch irgendwann vor großen sozialen Problemen stehen wird. Das löst nur nicht das Problem vor der Haustür. Die Illusion, es hier noch machen zu können, egal aus welchem Loch der Hierarchie du kommst, ist für viele nicht einmal mehr nachbuchstabierbar. Geschweige denn das Märchen von der Überlegenheit gegenüber anderen Systemen. Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass es verschiedene Wahrheiten auf dem Globus gibt. Ein Todesstoß für die Verkünder missionarischer Ideen.