Manche Phänomene sind mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr zu erklären. Immer öfter sind Verhaltensweisen zu beobachten, die mit den Programmen oder Philosophien der eigenen Organisationen und Häuser nicht mehr zu vereinbaren sind. Richtig, das gab es schon immer, aber als Massenphänomen verdient es doch eine etwas nähere Betrachtung. Denn nicht nur die Akteure, sondern auch die Gefolgschaft ist durchaus damit zufrieden, dass sich niemand mehr um den Zweck der Organisation, um die es geht, noch schert.
Besonders auffällig wird das Phänomen, wenn die Organisationsmitglieder sich treffen, um über ihre gemeinsame Zukunft zu räsonieren, das auch mit den Worten der allgemeinen Programmatik tun, und dennoch Dinge beschließen, die diesen Willensbekundungen diametral entgegenlaufen. Zu beobachten ist diese Schizophrenie in vielen Organisationen und es hat etwas mit einer allgemeinen Sinnkrise zu tun. Besonders auffällig ist es allerdings in diesen Tagen bei dem Parteitag der SPD.
Da wird nach langer Abstinenz von den Parteifunktionären Alt-Kanzler Gerhard Schröder eingeladen, der zum ersten Mal nach acht Jahren wieder reden darf. Der von vielen verschmähte Kanzler der Agenda 2010 kommt und spricht nicht über den Pragmatismus, für den er in seiner Amtszeit stand, sondern er gibt den Delegierten noch einmal einen Grundkurs über die programmatische Tradition der deutschen Sozialdemokratie. Und Gerhard Schröder kennt die Geschichte seiner Partei. Sicher führt er aus, was soziale Gerechtigkeit ist und ebenso sicher verweist er auf die Notwendigkeit einer konsequenten Friedenspolitik. Nicht, dass es nicht auch eine lange Tradition des Verrats an diesen zentralen Programmpunkten innerhalb dieser Partei gäbe, aber darüber zu referieren, hatte Schröder nicht vor.
Stehende, nicht enden wollende Ovationen beendeten die Worte des Alt-Kanzlers und es konnte der Eindruck entstehen, die SPD hätte die Initiative ergriffen, auf diesem aktuellen Parteitag ihre aktuelle Politik, die mit den gesetzten Identifikationsmustern der Sozialdemokratie kaum noch etwas gemein hat, zu revidieren. Aber mit der gleichen Entschlossenheit, mit der die Delegierten ihre eigene Geschichte feierten, bestätigten sie eine Regierungspolitik, die als Kriegserklärung an die spirituellen Grundfesten der Sozialdemokratie zu werten ist.
Sowohl der vor allem durch den dogmatischen und militanten Finanzminister Schäuble vertretene Kurs des Wirtschaftsliberalismus, der abhängig Beschäftigte einer immer mächtiger werdenden Lobby von global agierenden Finanzspekulanten ausliefert, als auch die ohne internationales Mandat, ohne Deckung durch das Völkerrecht deklarierte militärische Operation der deutschen Luftwaffe über syrischem Hoheitsgebiet, ohne dass die Republik vorher angegriffen worden wäre, sind Mittäterschaften gegen die eigene Bewegung. Es sind die symbolträchtigsten Vergehen gegen die sozialdemokratische Philosophie, aber nicht die einzigen. Ob die mulmigen Positionen zu TTIP oder die durch den sozialdemokratischen Wirtschaftsminister genehmigten Waffenexporte an Terrorunterstützer – es fällt schwer noch herauszufinden, was zur klassischen Ausrichtung der Sozialdemokratie, die einmal die bestorganisierte der Welt war, aktuell passen würde.
Was auch nicht passt und zu dem anfänglich beschriebenen Phänomen gehört, ist die Tatsache, dass anscheinend tatsächlich und aufrichtig eine große Ratlosigkeit darüber herrscht, warum sich die Partei auf einem stabilen Weg sinkender Zustimmung befindet. Denn logisch ist es allemal. Wer seine Klientel systematisch verprellt und anders handelt, als er es zusichert, der darf sich nicht wundern, dass ihm kaum noch jemand vertraut. Das widersprüchliche Verhalten auf dem Parteitag, der immer auch ein Ritual ist, dokumentiert das in wirklich beredter Weise. Zu erklären ist es vielleicht mit einer Art mentalem Absentismus. Ist die Frage, wer noch in der Lage ist, da wieder herauszufinden.

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