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Noch Zeit für eine Einheit, für einen Neuanfang?

Für viele hier ist es neu. Es handelt sich jedoch um ein uraltes Phänomen menschlicher und damit gesellschaftlicher Existenz. Nach einer Phase relativer Ruhe folgt eine Periode rascher Veränderung. Schon vor Jahren wiesen menschliche Seismographen darauf hin. Nach Jahrzehnten ohne Krieg und Not, nach einer langen Episode relativen Wohlstands sind die Menschen zu unaufmerksam, zu satt und zu imprägniert gegen jegliche Form von Warnzeichen. Da wird vieles mit einem Schulterzucken als harmlos erachtet. Denn das saturierte Leben geht weiter. Nur diejenigen, die aufgrund ihres Alters oder aufgrund der Unmittelbarkeit ihrer eigenen Eltern noch eine Vorstellung davon haben, was Krieg und ein totalitäres Regime bedeuten, heben den mahnenden Zeigefinger. Wenn sie Glück haben, werden sie als belustigende Figuren aus einer anderen Epoche belächelt.

Hier und auf unzähligen anderen Seiten wurde darauf hingewiesen, was Kriege verursacht, was sie beschleunigt und dass sie nichts hervorbringen, was der Masse der Menschen auf beiden Seiten etwas bringen würde. Und ebenso wurde aufgezeigt, welche Maßnahmen des politischen Designs nicht gegen den totalitären Ungeist schützen, sondern ihn gesellschaftsfähig machen. Es ist tatsächlich ein Circulus vitiosus. Wir sind mitten im berühmten Kreis des Teufels und das große gesellschaftliche Echo, das wir täglich vernehmen, befeuert ihn. Wer es fertig bringt, Befürworter des Friedens als Agenten des Feindes und Freunde des Totalitarismus zu bezichtigen, hat die Fibel der Heiligen Inquisition intensiv studiert. Denn der Großinquisitor, das wissen wir seit Dostojewski, glaubt selbst gar nicht an Gott. Aber von ihm zu erwarten, noch an einem gemeinsamen gesellschaftlichen Projekt der Hoffnung zu arbeiten, hieße mit dem Teufel den Beelzebub auszutreiben, um im Bild zu bleiben.

Heute las ich den Wunsch einer immer in der Politik dieses Landes aktiv gewesenen Frau, es möge hier doch, wie in Frankreich, gelingen, dass sich die Demokraten zusammenschlössen, um ein Abdriften in den Totalitarismus zu verhindern. Ein teilbarer Wunsch, auch wenn noch lange nicht feststeht, wie das Drama im geliebten Nachbarland ausgehen wird. Vielleicht ist die Situation gar nicht so komplex, wie sie oft dem staunenden Volk dargestellt wird. Vielleicht ist es einfach zu vieles, was aufgearbeitet werden muss. Wie Jean Paul Sartre es so treffend formulierte, Vertrauen gewinnt man in Tröpfchen, aber man verliert es in Eimern. Es wäre folgerichtig, zu einer Tabula rasa der Schuldzuweisungen aufzurufen und an einer Plattform der unzweifelhaften Gemeinsamkeiten zu arbeiten. Die muss jedoch auf zwei Pfeilern stehen, die, da bin ich mir sicher, von der Mehrheit getragen werden, und die heißen: Frieden und Recht. Wer damit nicht leben kann, soll sich weiter der Zerstörung widmen.

Tabula rasa der Schuldzuweisungen, Frieden und Recht sind die Voraussetzungen, die noch, als minimale Plattform, das Zeug hätten, einen Neuanfang zu definieren. Alles andere führt dahin, wohin eine große Kohorte bereitwillig mitgelaufen ist. Wer den Frieden und das Recht nicht schätzt, hat sich überfressen am Backwerk des unpolitischen Daseins, an den Sahnestückchen, garniert mit der Abwesenheit von Not, ist stumpfsinnig geworden aus konsumistischer Selbstverliebtheit und hat alles, was ein zivilisiertes Individuum ausmacht, eingetauscht gegen die bachanale Lust am Untergang. Mögen sie ins Verderben gehen, aber bitte alleine.

Ob noch Zeit ist, für eine Einheit, für einen Neuanfang? Ich habe Zweifel. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt!

Unter dem totalitären Siegel

Gut, wenn alles seine Ordnung hat. Dann wissen alle, wie das Spiel gespielt wird und niemand muss sich der Mühe aussetzen, neue Phänomene zu identifizieren und einzuordnen. So, als wollten alle, die an der Sache der Öffentlichkeit beteiligt sind, der großen Mehrheit einen Gefallen tun, hat sich bislang niemand dazu durchgerungen, auch nur irgend etwas auf den Prüfstand zu legen, obwohl das zum Sinn von Wahlen gehört. Es wäre angebracht, sich die Grundpfeiler der Politik anzusehen, zu betrachten, was aus diesen Annahmen geworden ist und wohin das Ganze führt. Aber, so scheint es, dazu besteht kein Anlass.

Wahlkämpfe sind die Lebenszeichen einer Demokratie. In ihnen ist zu beobachten, ob es in der Gesellschaft einen Streit gibt über die Grundannahmen und ob es eine Auseinandersetzung zwischen den Interessen gibt. Denn, das sollte nicht vergessen werden, wenn so eine Erzählung durch die Medien geistert, dass etwas für alle so oder so besser oder schlechter sei, dann ist Ideologie im Spiel. Dann geht es bereits um Partikularinteressen und dann hat eine gesellschaftliche Klasse bereits die so genannte Lufthoheit erlangt. Der Wirtschaftsliberalismus ist die Religion der Reichen, und sie kann momentan als Staatsreligion bezeichnet werden.

Da keine grundlegenden Positionen bezogen werden, die das System von Steuerentlastung, die damit verbundene Ent-Staatlichung, die Löhne auf einem niedrigen Niveau zu halten und somit Exportüberschüsse zu gewährleisten anprangern, ist wenig Land in Sicht. Und da der gegenwärtige Entwurf der SPD mit Gerechtigkeit und Bildung nicht prinzipiell den Wirtschaftsliberalismus zur Disposition stellt, ist damit zu rechnen, dass wir vor einem der langweiligsten Wahlkämpfe der Geschichte der Republik stehen, obwohl es um mehr geht als sonst. Der Kurs dieser Regierung steht auf Konfrontation, Expansion und Verwerfung, und wenn keine Alternative entsteht, wird die Zukunft düster sein.

Und es bedarf keiner tief greifenden Analysen, um zu sehen, wohin die Reise geht. Nach anfänglichem Geschrei folgt diese Regierung dem desaströsen Kurs der USA im Nahen Osten weiter. Waffengeschäfte mit Saudi Arabien werden nach wie vor getätigt, die Einmischung in Syrien hat militärischen Charakter und das Verhältnis zur Türkei ist undurchsichtig. Die jeden Tag aufs neue dokumentierbare Faschisierung des türkischen Staates hat keine konsequente Position zur Folge. Es kann ja sein, dass es noch möglich ist, mit der Türkei Geschäfte zu machen. Dagegen ist die Position gegenüber Griechenland felsenfest. Obwohl das dortige Gemeinwesen ausblutet und den Namen nicht mehr verdient, wird ein Schuldenerlass abgelehnt. Da werden Gesellschaften und Völker geopfert, um Banken zu retten.

Gut, wenn alles seine Ordnung hat. Die Befindlichkeit der Republik wird definiert über das Unausgesprochene. Alles, was dazu geführt hat, das Land in internationalem Kontext zu isolieren, alles, was zu einer weiteren Polarisierung zwischen Arm und Reich beitrug, steht unter einem Siegel des Totalitarismus. Ja, die Courage, Missstände und sozial fragliche Positionen anzugreifen, wird diskriminiert als eine populistische Entgleisung. Wer die Geldflüsse in Verbindung mit politischem Verhalten in Europa kritisiert, wer den Regelungswahn dieser Bürokratie anspricht, hat blitzschnell das Label des Europahassers am Revers. Wer das Junktim von NATO und EU im Falle der Ukraine hinterfragt, ist ein Putinversteher. Und wer für eine unabhängigere, aus eigenen Interessen geleitete Politik gegenüber den USA fordert, ist schnell ein so genannter Reichsbürger, obwohl er diese gar nicht kennt.

Die Logik ist totalitär. Und zu reformieren ist sie nicht.