Schlagwort-Archive: Schottland

Die Rückkehr der Hundred Pipers

In Krisen bleibt das kollektive Gedächtnis unbarmherzig. Es erinnert sich an alles, was die Geschichte bereit hält an Demütigungen und Verwerfungen. Das ist auch jetzt der Fall im Falle Schottlands. Bekanntermaßen stehen die Schotten vor einer entscheidenden Abstimmung über den Verbleib im britischen Königreich. Das ist nicht erstaunlich. Die Geschichte Schottlands ist die Geschichte von Niederlagen gegen ein übermächtiges Britannien im Süden. Der Auslöser für die aktuellen Bestrebungen, sich von Großbritannien zu lösen hat jedoch nicht die alte Verweigerung der eignen Unabhängigkeit zur Grundlage, sondern der gegenwärtige Zustand Großbritanniens und die Perspektive eigener wirtschaftlicher Prosperität. Die Ölvorkommen in schottischen Hoheitsgewässern wären das lange gesuchte Mittel um komfortabel auf eigenen Füßen zu stehen. Es winkt eine exklusive Existenz nach dem Muster Norwegens. Klein, überschaubar und reich.

Der Beitrag, den die Macht in London zu den Abspaltungswünschen geleistet hat, hat nicht die Geschichte der Unterwerfung Schottlands zur Grundlage, sondern er liegt in einer Politik der letzten drei Jahrzehnte. Mit der großen Kehrtwende, der von der Eisernen Lady Margaret Thatcher eingeleitet wurde, ist eine der wesentlichen Grundlagen der britischen Größe endgültig zerstört worden. Nach dem Verlust der kolonialen Macht blieben dem Königreich noch exzellente Kontakte zu den ehemaligen Kolonien, die sich auch in dem Zugriff auf für die Warenproduktion wichtigen Rohstoffe niederschlugen. Mit der Krise der Kohle- und Stahlindustrie zog die Londoner Politik jedoch die falschen Schlüsse. Anstatt die wertschöpfende Industrie umzusteuern auf Leistungen und Produkte technisch hoch entwickelter Massenprodukte und innovationsfähiger Verfahren, zerschlug man die Arbeitsstätten des ältesten Proletariats Europas und ließ es dabei bewenden.

Auf der einen Seite blieb ein heute auf vier Millionen geschätztes Industrieproletariat, für das es keine Verwendung mehr gibt und das sich als ein Arsenal der Unzufriedenheit und Trostlosigkeit etabliert hat. Auf der anderen Seite unterlag man der Mystifikation, die die Domäne der Finanzspekulation, zu der sich London gemausert hatte, suggerierte. Die Produktion von Reichtum durch den Handel mit Optionen auf eine Wertschöpfung, die andernorts stattfindet, hat eine neue Klasse von Plutokraten hervorgebracht, die zwar Liquidität in Hülle und Fülle mit sich bringt, aber auch die Verluste sozialisiert und deren Verantwortung gegenüber der Gesellschaft missen lässt. Russische Oligarchen und arabische Ölmogule leben prächtig in der Metropole an der Themse. Für diejenigen, deren Arbeit das Land zum Wohlstand gebracht haben, ist aus rein monetären Gründen kein Platz mehr. Kein Land Europas hat seine Arbeiterklasse trotz der ungeheuren Krisen in den klassischen Industriezweigen so verraten wie Großbritannien. Das zahlt sich jetzt aus. Die Perspektive ist düster, warum also sollten sich die Schotten ausgerechnet dafür entscheiden?

Wenn sich große Veränderungen in der Geschichte andeuten, dann bemühen die Akteure zumeist die Vergangenheit, um ihr Unterfangen zu legitimieren. Denn in der Vergangenheit liegen die Überlieferungen, derer es bedarf, um dem Wandel emotional einen Sinn zu geben. So ist es kein Zufall, dass jetzt in der schottischen Debatte vor der Entscheidung die Geschichte eine sehr große Rolle spielt und mehr Raum einnimmt, als ihr tatsächlicher Stellenwert tatsächlich ist. Von Maria Stuart bis zu den Hundred Pipers ist die Rede. Gerade letztere, nach denen sogar ein Whiskey benannt wurde, liegen seit ewigen Zeiten auf dem Depot der Emotionen eines jeden Schotten. Es galt als ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Musiker, die vor dem Heer marschierten, für die Attacke Tabu waren. In einer der vielen Schlachten wurden sie von englischen Angreifern dahin gemetzelt. Der Grund, für die Abstimmung, die ansteht, sind sie nicht. Aber nichts bleibt vergessen. Die Hundred Pipers sind zurück.

Die zentrifugalen Kräfte Europas

Wenn es eine politische Programmatik gibt, mit der die Europäische Union nun seit Jahrzehnten auf den Markt geht, dann ist es die der Integration. Um zu verstehen, was sich dahinter verbirgt, hilft ein kurzer Blick in die Historie. Das, was wir heute als die EU ansehen, von den Azoren bis zur russischen Grenze und von Skandinavien bis an die Küsten Afrikas, begann als eine Wirtschafts- und Zollunion von Belgien, den Niederlanden und Luxembourg als BENELUX und wurde später zu der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG. Das genuine Ziel der EU war Handelsvereinfachung zu gegenseitigem wirtschaftlichen Vorteil. Immer wieder genährt durch die Wunden des II. Weltkriegs waren es vor allem die Spitzenpolitiker Frankreichs und Deutschlands, die mehr aus dieser Wirtschaftsunion machen wollten, nämlich ein politisches, friedenssicherndes Bündnis in dem die Demokratie zuhause ist.

Betrachten wird den Koloss EU in seinem gegenwärtigen Zustand, dann hat die Retrospektive etwas regelrecht Putziges an sich. Wir stehen nicht nur einer enormen Ausdehnung gegenüber, sondern auch einer ungeheuren wirtschaftlichen Disparität und einer politischen Asynchronität, die in der Geschichte von nicht-militärischen Bündnissen wohl einzigartig ist. Dazu kommt eine Brüsseler Bürokratie, die den Monolithen mit dem Jonglieren von gigantischen Transferleistungen in Schach zu halten sucht. Die im 2008 aufgepoppte Weltfinanzkrise hat dazu geführt, dass die unterschiedliche Machtverteilung das Szenario einer Vereinigung zu gegenseitigem Vorteil hat zum Bersten bringen lassen. Der wachsende Zentralismus der EU hat eine spirituelle Enge in den verschiedenen Ländern der Union erzeugt, die zunehmend mit separatistischen Bewegungen beantwortet wird.

Natürlich gab es historisch auch ohne EU Separatismus in Europa, aber die Häufung sollte doch nach Jahrzehnten der Re-Education unter dem Slogan Europäische Integration Anlass zum Nachdenken geben. Gerade in diesen Tagen stehen gar Referenden an, wie in Schottland, wo es um die Abtrennung von Großbritannien geht, nicht von der EU. In Venedig hat sich eine Initiative gebildet, die bereits an die Mehrheitsmarke schwappt und die Abtrennung von Italien zum Ziel hat. Ähnliches geschieht seit Jahrzehnten in Katalonien, da geht es um die Trennung von Spanien und ist wie in Venedig eine Variante des Wohlstandsseparatismus. Dass dort ausgerechnet Pep Guardiola zu den Galionsfiguren gehört, ist sehr folgerichtig, denn mit diesem Programm der ethischen Verwahrlosung passt er gut nach Bayern. Und dass so mir nicht dir nichts Hunderttausende in Bilbao für die Verlegung von ETA-Gefangenen von Spanien ins Baskenland demonstrieren, sollte auch in gewisser Weise zu denken geben.

Das Interessante an dem Modell Demokratie im Kontext der EU ist die Tatsache, dass wir trotz einer ansteigenden Virulenz der Zentrifugalkräfte im europäischen Kernland aus den öffentlich-rechtlichen Medien kaum etwas erfahren. Während jeden Abend in den Nachrichtensendungen die Mülltonnen auf der Krim von innen und außen ausgeleuchtet werden, erfahren wir nichts aus Venedig, Mailand, Barcelona oder Bilbao. Da liegt nichts näher als die alte Weisheit aus den Arsenalen der Macht, dass es bei inneren Konflikten ratsam ist, einen Feind von außen aufzubauen, an dem man sich emotional abarbeiten kann und der die zerstrittene Familie zumindest wieder für einen Augenblick vereint. Ob letzteres gelingt, ist mehr als fraglich. Und die Probleme, die strukturell im Wesen der Union begründet liegen, wird das russische Feindbild schon gar nicht lösen. Da wären eher Felder wie direkte Demokratie oder Autonomie im aufgeklärten Sinne anzusteuern. Das liegt den Kriegsrittern des aktuellen Molochs allerdings fern.