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Der Aufstand des Kochs und der Karneval der Unwissenheit

Mein Gott! Was für eine Geschichte! Der Leibkoch des Zaren probt den Aufstand. Da zittert das ganze Reich und, wer weiß, ein neuer Zar besteigt den Thron? So hätte das im hiesigen schreibenden Gewerbe natürlich niemand von sich geben dürfen, denn die Freiheit des Wortes unterliegt einem strengen Reglement. Dass aber, nachdem die Meldung heraus war, dass der ehemalige Vertraute Putins mit seiner vom Restaurationsbetrieb zur Privatarmee gemauserten Organisation sich gegen das reguläre russische Militär stellt, quasi im Jubelzustand über das Ende einer Ära spekuliert wurde, sagt mehr über die Verhältnisse hierzulande etwas aus als über Russland. Wenn man sich vorstellt, dass zum Beispiel ein an einer deutschen Bundeswehrhochschule lehrender Militärhistoriker bei auf russischen Autobahnen von der Wagner-Truppe zurückgelegten Kilometern ohne jegliche Kampfhandlung von Geländegewinnen spricht, ist an Dummheit oder Chuzpe, ganz wie Sie wollen, nicht zu überbieten. 

Wie Zar Putin die Krise gemanagt hat, nämlich ohne einen Schuss abfeuern lassen zu müssen, innerhalb von 24 Stunden, spricht nicht unbedingt von Handlungsunfähigkeit. Und dass die militärischen Verbände Prigoschins, die nicht ins reguläre russische Heer eingegliedert werden, nun in Form von Ausbildungslagern in Weißrussland an einer anderen Grenze zur Ukraine weiterarbeiteten, Besorgnis hervorriefe, wäre vielleicht eine klügere Reaktion als das voreilige Triumphgeschrei. 

Genauso wäre, zumindest bis zum jetzigen Zeitpunkt, es so langsam an der Zeit gewesen, zu realisieren, dass ein Regime Change in Russland nicht zu einer liberalen Reformhaus-Demokratie, von der das woke Milieu träumt, führen wird. Es hat sich, wenn man ein bisschen in der Lage ist, hinter die Kulissen zu schauen, längst die Erkenntnis aufgedrängt, dass Putin wohl die gemäßigste Kraft ist, auf die man treffen kann. Die Hardliner im eigenen Land, von denen es Dutzende gibt, werfen ihm sein Zögern und sein immer wieder rückversicherndes Vorgehen als Schwäche vor, die er wohl in seinen Jahren in Deutschland erworben hat. Das, was aktuell nach Putin käme, wäre eine Carte Blanche für den totalen Krieg. 

Letzteres ist, ideologisch wie immer mehr materiell, genau das, was aus medialen und politischen Kreisen in unseren Breitengraden längst als Ziel ausgegeben ist. Dass es gelungen ist, einen weniger bekannten Teil aus Goebbels Sportpalast-Rede in einem dieser von Selbstgewissheit wie Unkenntnis strotzenden, so genannten Polit-Talk-Formaten mit nur geringen Veränderungen zu platzieren und die ganze Kriegskamarilla euphorisch in die Hände klatschte, spricht Bände. Es nährt die Gewissheit, dass mit den in Europa herrschenden Eliten aus Medien und Politik mit keinerlei Friedensinitiative zu rechnen ist. Sie setzen auf Eskalation und Sie können sich sicher sein, sie haben bereits ihre Exit-Pläne, wenn sich der Brand in Europa nach Westen ausdehnt. Wenn hier die Schwarte brennt, ist der Reibach gemacht.

In Zeiten wie diesen ist es immer ratsam, sich auf das zu verlassen, was man weiß und nur denen zu glauben, die sich in einem langen Prozess das Vertrauen verdient haben. Sicher ist, dass die ganzen Hypothesen, denen die westliche Politik in dieses Desaster gefolgt ist, als falsch herausgestellt haben. Deshalb sind die Schlussfolgerungen auch so desaströs. So, wie es aussieht, traut sich bis jetzt niemand, einzugestehen, dass man falsch lag. Das hätte übrigens nicht so sein müssen, man hätte nur etwas aufmerksamer die politische Literatur in den USA studieren müssen. Dort war alles nachzulesen. Gut dokumentiert, klar formuliert und mit zahlreichen Warnhinweisen versehen. Stattdessen plapperte man unreflektiert das Programm der dortigen Kriegspartei nach. Bis heute tobt hier der Karneval der Unwissenheit.

Und allen, die immer noch nicht wissen, mit was wir es in Russland zu tun haben und die es leid sind, von den medial präsentierten Scharlatanen weiterhin belästigt zu werden, empfehle ich Ihnen nur drei Autoren: Tolstoi, Puschkin und Dostojewski. Die stehen zwar bei der hiesigen Kriegspropaganda auf dem Index, aber der Buchhändler Ihres Vertrauens besorgt sie Ihnen trotzdem. Sie werden sich wundern, wieviel sie verstehen werden, was dieses große Land Russland betrifft.    

ÖRR: Noch reformierbar?

Man kann sich grämen, man kann sich voller Schamgefühl abwenden oder man kann dem Wahnsinn verfallen. Letzteres gliche der Ursache. Denn anders ist das nicht mehr zu erfassen, was sich die Nachrichtenformate der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten immer einfallen lassen und in die mittlerweile verdunkelte Welt hinausblasen. Gestern war wieder so ein Tag und das heute journal des ZDF hatte, wie sollte es anders sein, einen Experten aus einem der regierungsnahen Think Tanks eingeladen, um ein statt gefundenes Ereignis zu bewerten.

Dabei ging es um den Anschlag auf die Tochter des russischen Geostrategen und Politikberaters Alexander Dugin, seinerseits im Westen vor allem bekannt durch seine jüngste Publikation „Das Grosse Erwachen Gegen Den Great Reset“. Dugin gilt als enger Berater Putins, was ihm bei vielen der westlichen Qualitätsjournalen die Bezeichnung des „Einflüsterers“ verschafft hat. Ziel des Anschlags, so sind sich nicht nur die russischen, sondern auch die westlichen Geheimen Dienste einig, war wohl Alexander Dugin selbst. Er war jedoch auf einer Veranstaltung länger geblieben, seine Tochter hatte stattdessen den PKW genommen und war kurz darauf durch einen Sprengsatz verursacht damit in Stücke gerissen worden.

Die ansonsten stets moralisch schniefende Moderatorin fragte, vom Gesichtsausdruck her eher belustigt, wie denn die Geschichte zu deuten sei. Der Experte nannte drei Szenarien, die existierten: 1. die Version des russischen Geheimdienstes, die den Anschlag mit tödlichem Ausgang der Ukraine zuschriebe, 2. die Tat einer wo auch immer zu verortenden Terrorgruppe innerhalb Russlands und 3. eine vom russischen Geheimdienst selbst inszenierte Operation.

Flink arbeitete der Experte die Wahrscheinlichkeiten ab und nannte die ersten beiden Versionen verschwörungstheoretisch, während die dritte wohl durchaus möglich sei. Lassen wir es uns auf der Zunge zergehen: in einer Nachrichtensendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wird allen Ernstes behauptet, der russische Geheimdienst hätte die Tochter eines der engsten Beraters des Präsidenten in die Luft gesprengt, um allen Russen zu zeigen, wer nicht spure, dem blühe Schreckliches. Alle anderen Deutungsmöglichkeiten, die dem staunenden Hörer und Zuschauer zunächst einmal als nicht unwahrscheinlich erscheinen mochten, wurden kurzerhand vom Tisch gewischt, um mit einer richtig geilen Sci Fi Story aufzuwarten, die natürlich voll ins politische Schema der gegenwärtigen Kriegsführung passte. Danach wurde das munter geführte Interview beendet.

Zeitreisen sind ein gutes Mittel, um sich die Entwicklung vor Augen zu führen und die Emotionen aus dem Spiel zu lassen. Und so sei der Vorschlag akzeptiert, sich vorzustellen, dass eine derartige Geschichte, sagen wir, vor 20, 25 Jahren in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen hätte stattfinden können. Die Antwort ist eindeutig: Nein, es wäre ein Skandal sondergleichen gewesen, wie Wahrscheinlichkeiten vom Tisch gewischt wurden und abstruse Fieberträume den Status der Faktiziät erlangten. Das Publikum hätte protestiert, die Journalistenkollegen hätten sich positioniert und Intendanz wie Aufsichtsgremien hätten Rede und Antwort stehen müssen.

Der Umstand der gestrigen Entgleisung ist weder unbekannt noch neu. Während sich derzeit, wahrscheinlich auch inszeniert, alles um die Amtsführung einer Intendantin dreht, bleibt der eigentliche Skandal, nämlich die Verwahrlosung des journalistischen Niveaus und die gleichbleibende Parteilichkeit, und zwar stets auf der vermeintlichen Regierungsseite, im Dunkeln bleibt. Mit dem Skandal um eine klebrige Amtsführung meint man, das Augenmerk von einem Zustand ablenken zu können, den ein Großteil der Konsumenten längst enthüllt hat. Und, das sollte jedem klar sein, dem von innen heraus nicht mehr Abhilfe geleistet werden kann. Spätestens die täglichen geschlagenen kriegerischen Propaganda-Volten haben gezeigt, wohin die Reise gegangen ist. Der handwerklich seriöse Journalismus wurde systematisch eliminiert oder gering dosiert als Alibi eingesetzt, während der ganze Dreck der Propaganda nach oben geschleudert wurde. 

Was meinen Sie, ist das noch reformierter?  

Sehr nah an der nackten Wahrheit

Ich habe mir übrigens nicht die Frage gestellt, ob es sich bei dem Buch um einen Roman, eine Erzählung oder um eine historische Betrachtung handelt. Eher aus Zufall bin ich auf Autor wie Buch gestoßen und ich war von der ersten an Seite gebannt. Für mich ist es ein realistischer Thriller. Der französische Autor Emmanuel Carrère hat bereits im Jahr 2012 seine „Hommage“ an den übrigens 2020 verstorbenen russischen Dissidenten, Schriftsteller, Desperado und Politiker Eduard Limonow veröffentlicht. Bei ihm handelt es sich um eine aus allen Perspektiven zu betrachtende schillernde Persönlichkeit, die Zeit ihres Lebens auf Seiten der Rebellion stand und sich dabei auf die irrsinnigsten Koalitionen einließ. Außer, dass sich das im Feuilleton befindliche Lesepublikum mit einem gewissen Kitzel mit literarischen Figuren befasst, denen es im richtigen Leben geflissentlich aus dem Wege ginge, hat diese Figur keinen fiktionalen Hintergrund, denn sie hat tatsächlich gelebt und im Osten wie im Westen eine Rolle gespielt. Und angesichts der aktuellen Entwicklungen im Verhältnis von Russland und dem Westen bringt die vorliegende, reflektierte Biographie des Eduard Limonow einen Reihe von Erkenntnissen über die letzten Jahrzehnte russischer Befindlichkeit.

Und trotzdem, das Leben des Russen Limonow, der im ukrainischen Charkow aufwuchs, den es als Rebellen nach Moskau trieb, der sieben Jahre später als Dissident das Land verlassen musste, der in New York strandete, um dort das russische Exil aufzumischen, sich als Literat einen Namen machte, als Stricher in den Parks lag und als Butler eines Millionärs arbeitete, den es dann nach Paris trieb, wo er als Kultfigur im literarischen Underground galt, bis ihm diese Existenz zu langweilig wurde, der plötzlich im Balkankrieg auf Seiten der Serben stand, der nach Russland zurückging und die dortige Anarchie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte und sich schließlich als Politiker der Nationalbolschewisten einen Namen machte und schließlich in Gefängnissen und Arbeitslagern wiederfand, ist mehr als eine atemberaubende Revue.

Es handelt sich auch um ein Geschichtsbuch über die Sowjetunion und das heutige Russland. Apparatschiks, Geheimdienste und Oligarchen führen dabei Regie, Figuren, die gescheitert sind wie Michail Gorbatschow und Boris Jelzin, Theoretiker wie Alexander Dugin, wie Chodorkowski   und vor allem Wladimir Putin spielen eine Rolle und deren Schilderungen alleine wären die Lektüre wert, denn sie werden mit großer Beobachtungsgabe charakterisiert und erhalten in ihrem historischen Kontext die Erklärungsmuster, die ein Verständnis der heutigen russischen Verhältnisse verdienen. Vieles wird plausibel, was zumindest mir vorher absurd erschien, aber wenn der Nationalbolschewist Limonow Putin einen Faschisten nennt, dann wird das vor dem von Carrère ausgebreiteten Panorama sogar verständlich.

Ohne in den in diesen Tagen so inflationär gebrauchten Superlativ verfallen zu wollen, er lässt sich bei dem vorliegenden Buch von Emmanuel Carrère nicht verhindern. Es ist das beste Buch, das mir in den letzten Jahren in die Finger gekommen ist. Ein Thriller, der den grausamen Realitäten entspricht, in denen die Russen leben, ein Handbuch zum Verständnis von scheinbar undurchsichtigen Zusammenhängen, ohne Glorifizierung, ohne kulturelle Arroganz. Sehr, sehr nah an der nackten Wahrheit. Zumindest im politischen Sinne.

  • Herausgeber  :  btb Verlag (11. August 2014)
  • Sprache  :  Deutsch
  • Taschenbuch  :  416 Seiten
  • ISBN-10  :  344274718X
  • ISBN-13  :  978-3442747184
  • Originaltitel  :  Limonov
  • Abmessungen  :  11.9 x 2.8 x 18.8 cm