Die Stadt, in der ich lebe, hat sich eine wesentliche Tugend aus dem Industriezeitalter bewahrt. Man ist, wie es hier so treffend formuliert wird, geradeheraus, d.h. man sagt, was einem durch den Kopf geht und zwar in der direktest möglichen Form. Das kann für sublimierte Geister zuweilen befremdend sein und auch verletzen, aber auf deren Gesellschaft kann auch verzichtet werden, wenn sie nicht zum entscheidenden Punkt kommen. Das Schlichte ist oft, und das entgeht den eher kompliziert Sozialisierten zumeist, das eigentlich Schwere. Und so überrascht es immer wieder, wie, vor allen Dingen in Zeiten wie diesen, die Menschen hier einen brutal kühlen Kopf behalten und in der Lage sind, die Wahrheit aussprechen.
Vor wenigen Tagen wurde ich Zeuge einer Unterhaltung zweier sehr betagter Männer. In der Umkleide eines Fitnessstudios trafen sich die beiden per Zufall und wechselten einige Worte. Wir, so begann der eine, stehen doch schon an der Pforte zum großen Glück. Worauf der andere antwortete, da hast du recht, aber bevor wir durch diese schreiten, sehen wir uns hier unten die Scheiße noch ein bisschen an! Dabei lachten beide aus vollem Hals und vermittelten den Eindruck großer Heiterkeit.
Der kurze Dialog dokumentiert Klarsicht und Gelassenheit, zwei Befähigungen, die den meisten Menschen in diesen Tagen nicht gegeben sind. Und wenn, dann sind sie eben dort zu finden, wo sie der gesellschaftliche Diskurs, sofern er einen institutionalisierten, offiziellen Charakter hat, am wenigsten vermutet. Dort, wo die Bedauernswerten und Verblendeten vermeintlich sitzen, blitzt immer wieder die Befähigung auf, die Welt und das Leben, wie sie sich gestalten, ohne Ideologie, ohne Mystifikation und ohne emotionale Befindlichkeit zu erfassen und zu benennen. Eine Gabe, die bei vielen, die bei vielen, die mit Macht ausgestattet sind, ebenfalls vorhanden ist, die ihre Erkenntnisse wohlweislich nicht öffentlich formulieren. Was dazwischen bleibt, ist das verwirrende Kauderwelsch als Produkt einer Maschinerie, die mit Materialien wie Framing, Wording, Mind Setting, Political Spin etc. arbeitet und als gelungenes Endprodukt die totale Verwirrung und Beherrschbarkeit der Köpfe hat. Diese Maschinerie arbeitet auf Hochtouren und wer sich von der pausenlosen semantischen Achterbahnfahrt erholen möchte, begebe sich in die Gesellschaft wie die der beiden geschilderten Herren. Von ihnen gibt es mehr, und zwar in allen Alters- und Geschlechtsgruppen, als die kontrollierte Öffentlichkeit vermuten lässt.
Und der Kontakt zu diesen Menschen vermittelt außer einem klaren Bild der Verhältnisse auch das, was man als Lebensmut bezeichnen könnte. Denn, wenn man sich und Menschen, an denen einem gelegen ist, zu Beginn eines neuen Jahre etwas wünschen sollte, dann ist es Lebensmut. Das Mysterium, das den Mut so außer Mode gebracht hat, ist die immer wieder gepflegte Illusion, nein, das Tabu, darüber zu sprechen, dass wir alle nur ein bestimmtes Quäntchen an Zeit zur Verfügung haben, um hier auf diesem Planeten einen mikroskopischen Teil zu seiner Entwicklung beizutragen. Wir alle sind nur Gast auf dieser Erde. Wie es so schön heißt, ein paar Jahre bist du jung und stark, dann sinkst du auf den Grund der Weltgeschichte. Wer diese Erkenntnisse erst einmal erklommen hat, der steht, Verzeihung, die beiden Herren gehen mir nicht aus dem Kopf, der steht an der Pforte zum Glück!
Mein Neujahrsgruß ist eigentlich ein Appell. Mischt Euch unters Volk, macht Euer Ding und nehmt alles nicht so ernst! Das große Glück wartet auf Euch. Es ist alles nur eine Frage der Zeit!