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Holt Euch den Rationalismus zurück!

Die Rekonstruktion der europäischen Aufklärung vermittelt ein sehr deutliches Bild. Die Erklärungsmuster, die sich an der Welt, so wie sie erschien, abarbeiteten, begannen mit dem Animismus, setzten sich fort über die Religion und endeten in der Philosophie. Deutschland, das in Zentraleuropa rückständigste Land bei der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft, ist im Gegensatz zur Gesellschaftsformation hinsichtlich des beschriebenen Denkprozesses ein hervorragendes Beispiel. In keiner anderen Ideengeschichte kann das stetige Anwachsen des Rationalismus in der Welterklärung besser illustriert werden als in der Verlaufskurve vom deutschen Sagenwesen bis hin zur klassischen deutschen Philosophie.

Deren Endpunkt, als der Hegel bezeichnet werden kann, bereitete mit der Dialektik den Weg für Marx, der seinerseits aus der nachvollzogenen Entwicklung des wachsenden Rationalismus einen Fortschrittsbegriff ableitete, der lange Zeit ungebrochen geteilt wurde.

Bis die Zeit anbrach, in der Schamanismus, Mystitzismus und Sektenwesen eine Renaissance erlebten. Das Industriezeitalter, die ersten imperialistischen Kriege, der Kolonialismus und die beschleunigte Entfremdung in der industriellen Produktion begünstigten eine Renaissance des Irrationalismus und der politischen Reaktion.

Bereits zu Beginn des XX. Jahrhunderts griffen die absurdesten Theorien um sich und zogen Bewegungen nach sich, die nicht in die Zeit passten, die allerdings aus der Zeit resultierten. Beim Studium dieser Bewegungen fällt seit langem auf, dass eine beängstigende Parallele zu den Verhältnissen besteht, unter der die gesellschaftliche Kohäsion in diesen Tagen leidet. Vom Kultischen bis zum Veganismus wurde im Vorraum des deutschen Faschismus alles vorgelebt, was sich heute wieder dechiffrieren lässt.

Die Versuche, das, was bereits einmal gesellschaftliches Unheil versprach, zu erklären, waren nach Ende des Krieges und beim Aufbau neuer Gesellschaften zunächst gelungen, ihr Erkenntniswert jedoch verblasste mit der Zeit.

Quasi als Epitaph auf den alten Rationalismus kann bis heute Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ gelesen werden, in der der Doppelcharakter des Rationalismus bei seiner Instrumentalisierung durch den Irrationalismus entkleidet wird. Das ist bis heute starker Tobak, und, bei der Lektüre stellt sich die beklemmende Frage ein, wie es sein kann, dass eine Gesellschaft in ihrer intellektuellen Befindlichkeit derartig zurückfällt.

Belege für die These, dass der Rationalismus momentan keine Chance hat, liegen auf der Straße. Geschichtsbücher werden gefälscht, Fragen an den Hochschulen unterbunden, neue heilige Kühe auf die Flure geführt und eine inquisitorische Logik feiert fröhliche Urstände. Alles, worauf sich die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft von einst hatte verständigen können, wurde in den Gully der archaischen Befindlichkeit gespült.

Die Klage darüber hätte den gleichen Charakter, wenn daraus nicht die Aufforderung an uns alle resultierte, sich an zwei Aufgaben zu machen, die als essenziell anzusehen sind.

Dabei handelt es sich um die Aufgabe, den Rationalismus in die Welterklärung zurückzuholen. Die Erklärung der Welt muss über die Enthüllung der irrationalen, manipulativen und ja, propagandistischen Binsenweisheiten der herrschenden Meinungsbildung geschehen. Wer sich der inquisitorischen Logik des medialen Mainstreams ergibt, hat seine Chance auf Gehör verspielt.

Und es muss darum gehen, die Methoden der kontinuierlichen Entmündigung ihrer Wirkung zu berauben. Wie das geht? Die Antwort ist so einfach wie wirksam: in dem wir alle beginnen, aktiv einzugreifen in das Geschehen. Und wo? Überall da, wo wir sind. Die Form der Verwaltung einer kompletten Population durch Mandatsträger und Propagandisten, denen die gesellschaftliche Zukunft nichts wert ist, muss ein schnelles Ende haben.

Topien und Utopien

Gustav Landauer war es, der Anarchist, tot geschlagen wie so viele seinesgleichen, der versucht hatte, mit einem einfachen wie einleuchtenden Modell den Lauf der Welt zu erklären. Er sprach von Utopien, die die Vision einer besseren Zukunft enthielten und von Topien. Mit letzteren meinte er den gesellschaftlichen Zustand, der das Bestehende festschreibt und die Verhältnisse zu konservieren sucht. Aus heutiger Sicht ist das nicht unbedingt ein berauschendes, aber andererseits dennoch ein nachvollziehbares Modell. Die stereotypen Modelle gesellschaftlicher Veränderungen sind auch nicht plausibler und und dennoch spricht auch vieles für ihre einzelnen Aspekte. Das Modell der Klassen und Klassenkämpfe zum Beispiel, von Marx theoretisch und von Lenin praktisch auf die Spitze getrieben, gilt seit den Großprojekten der sozialistischen Staaten im 20. Jahrhundert als gescheitert. Wiewohl, unter den Eindrücken ihres Zusammenbruchs und den Resultaten des freien Spiels der Kräfte in der Welt des Finanzkapitalismus vieles dafür spricht, dass gerade diese Theorie wieder an Attraktivität gewinnen wird.

Landauers Idee von den Utopien und Topien wurde zu seiner Zeit zu allgemein betrachtet. Was sie jedoch nicht machte, war eine Zäsur der Dominanz zu ziehen. Weder das Subjekt noch das gesellschaftlich Ganze wurden von einander getrennt. Insofern ist die Trennung von dem Subjekt und seiner historischen Unzulänglichkeit und dem gesellschaftlichen Objekt in seiner realen Gegebenheit in diesem Theorem nicht vollzogen. Die Chance, die sich dadurch auftut, ist die Trennung von Modell und persönlicher Lebenspraxis aufzuheben. Um es deutlich zu sagen: Es wird nie ein richtiges Programm existieren, wenn die Menschen, die es in die Praxis umsetzen wollen, sich verhalten wie es die überkommenen Verhältnisse erforderten. Die Revolution, die Umgestaltung, beginnt nicht nur im Kopf, sondern sich muss sich fortsetzen in der täglichen Lebenspraxis der Individuen, bevor sie Gestalt annehmen kann in Programmen und großen politischen Bewegungen. 

Auch letzteres ist keine neue Erkenntnis. Aber sie birgt immer noch die Chance, etwas zu überprüfen, das mit einem so antiquierten Begriff wie Aufrichtigkeit beschrieben werden kann. Denn das Dilemma der versuchten Veränderungen ist in der Regel genau in dieser Hinsicht zu suchen. Was bringen Programme, die niemand lebt und was bringen Programme, die ihres Geistes beraubt und durch den eigenen Buchstaben umgebracht werden. Letzteres ist eine Tugend, derer die Bürokraten dieser Welt mächtig sind. Sie ersticken die Idee, indem sie Richtlinien und Regelwerke schaffen, die sich verlieren in Verwaltungsakten, die restriktiv wirken und das freie Atmen verhindern. Heinrich von Kleist war es, dem kaum jemand eine Vorstellung von großer Umgestaltung unterstellte, der eine Art archetypischer Unterscheidung aufstellte: Es gibt Individuen, so Kleist in einer kleinen Note, die begreifen die Formel und es existieren Individuen, die sind der Metapher mächtig. Darin sah er den Grundwiderspruch seiner Zeit. Wer wollte ihm heute, im 21. Jahrhundert, widersprechen?

Mit der Etablierung der Technokratie als Form der Herrschaft unserer Zeit wurde das Denken in Formeln zu der dominanten Art und Weise, mit der Welt umzugehen. Das Beispiel, das eine Metapher setzt, wird von den Technikern des Geistes, wie Sartre sie nannte, in einen Raum verwiesen, in dem nur noch kulturell und kreativ agierende Randgruppen ihr Dasein fristen. Die Avantgarde der Technokratie hat, wiewohl sie eine restringierte Weltsicht verkörpert, die Metapher der Freiheit ramponiert bis zur Unkenntlichkeit. Es herrscht die Topie. Und genau dann dämmert der Morgen für neue Utopien. 

Über den Totalitarismus der Arbeit

Carl Cederström, Peter Fleming, Dead Man Working. Die schöne neue Welt der toten Arbeit

Die Frage nach der Entfremdung in der Arbeit und durch die Arbeit wird gestellt, seitdem es Analysen der kapitalistischen Produktionsweise gibt. Marx war natürlich der erste, er bezog es vor allem aus dem Doppelcharakter von Gebrauchs- und Tauschwert und der damit verbundenen Anonymisierung der Wertschöpfung. Sohn-Rethel setze diese Gedanken im 20. Jahrhundert fort, ohne noch groß Beachtung dafür zu bekommen. Erst mit den weniger ökonomischen und mehr philosophischen Überlegungen Michel Foucaults gewann das Sujet an Hitze. Seine Überlegungen zur Etablierung einer internalisierten, d.h. eingespielten Gouvernementalität reflektierten den Prozess der Arbeit als ganzheitliches Prinzip, das zeitlich vom Restleben nicht mehr getrennt werden kann.

 Dass der Prozess der Arbeit mit der digitalen Revolution traditionellen Vorstellungen, die man nach Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps trennen konnte, ein Ende bereitete, bestreitet heute niemand mehr, der sich ihr in unselbständiger Arbeit unterwerfen muss. Und den Hochglanzkampagnen, wonach die Auflösung der Trennlinie als Akt der Befreiung gefeiert wird, stehen böse Visionen und wachsende Suizidraten gegenüber. Carl Cederström von der Cardiff Business School und Peter Fleming von der University of London haben nun unter dem Titel Dead Man Working. Die schöne neue Welt der toten Arbeit einen Essay vorgelegt, den man nicht in Gänze goutieren muss, der aber in vielerlei Hinsicht dazu geeignet ist, die notwendige Diskussion weiter zu führen.

 Ausgangsthese der beiden ist die Unmöglichkeit, dem Prozess der Arbeit überhaupt noch zu irgendeinem Zeitpunkt des Tages entgehen zu können. Die absolute Hegemonie der Arbeit hat aus den Menschen etwas anderes gemacht. Das Dialektische dabei ist die Stereotypisierung und damit geringer werdende Wertschöpfung. Nur wenn Arbeit noch in der Lage ist, das Originäre und Authentische aus den Menschen herauszupressen, gelingen ihr nennenswerte Wertschöpfungsschübe.

In insgesamt sechs Kapiteln nach Formulierung der Ausgangsthese gehen die Autoren auf verschiedene Erscheinungsphänomene ein, die ihre Thesen untermauern sollen. Dazu gehören die Teambildungs- und Authentizitätseskapaden, die aus der Beraterszene in die tote Arbeit „eingespritzt“ werden sollen ebenso wie die Beschreibung der Omnipräsenz des Unternehmens in der realen geographisch divergierenden Lebenswelt. Der aus Verwertungsgesichtspunkten lebenswichtige Versuch des Aufspürens individueller Kreativität führt zu Prozessen wie der Industrialisierung der Bohème genauso wie der zum Massenphänomen gewordenen Erscheinung einer Entfremdung der Individuen von sich selbst, sobald sie das ihnen Individuelle als Verwertungstreibstoff enttarnt haben. Das sind sehr interessante und durchaus zutreffende Beobachtungen, die bei der Fragestellung nach Emanzipationsmodellen helfen können.

 In den letzten drei Kapiteln, die zunächst mit der Betrachtung der Modelle der Flucht vor dem Imperialismus der Arbeit beginnen und dann bei dem einzigen Erfolgsmodell in diesem Unterfangen mit dem Suizid enden, kann nur eine Pointierung gemeint sein, um die Notwendigkeit realer Veränderungen zu unterstreichen. Ansonsten bürge das Traktat etwas zu sehr die Essenz des Sektierertums. Eine eindeutige Formulierung findet sich allerdings nicht. Und im Ausblick das Charakterologische des kleinen Mädchens als Modell der unangepassten Person zu zeichnen, die mit Infantilität und bestechender Logik den Affront kultiviert, kann man als gelungene Regieanweisung zu einem genialen Theaterstück werten, nicht aber als Ende einer theoretisch-philosophischen Reflexion über den Totalitarismus der Arbeit im digitalen Zeitalter.

Insgesamt bergen die Überlegungen jedoch zahlreiche schwergewichtige Ideen, mit denen man sich auseinandersetzen sollte.