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Journalismus wie zu Zeiten des Bürgerkönigs

Honoré de Balzac war es, der in seinem Roman Verlorene Illusionen, der im Paris des neunzehnten Jahrhunderts entstand und spielte, in seiner atemberaubenden Art sehr detailliert beschrieb, wie der Beruf des Journalisten entstand. Die Figur, die aller Illusionen beraubt wird, ist ein junger talentierter Mann, der aus der Provinz in das lasterhafte, schnelle, korrupte und zu Kapitalismus und Börse stürmende Paris des Bürgerkönigs kommt und sich als Schriftsteller durchsetzen will. Das gelingt ihm nicht und er landet bei einer Zeitung. Ihn ehrt die Naivität, dass er nach der Wahrheit sucht und meint, das sei der Auftrag des Journalisten. Die Herausgeber der Zeitungen lehren ihn jedoch, was es heißt, sich auf einem Markt mit Konkurrenten behaupten zu müssen und wie man vorgehen muss, um hohe Auflagen zu erzielen. Der Roman ist neben vielem, was Balzac wie sonst in in vielen seiner Romane genial, aber in kaum einem in dieser Perfektion und Güte gelingt, ein Lehrstück über den Markt, auf dem sich Journalismus bewegt.

Die letzten Monate waren in vielerlei Hinsicht auch ein Lehrstück. Auch über den Journalismus. Aber hier und heute, in der Bundesrepublik Deutschland, in einer aus dem Selbstgefühl heraus definierten Demokratie, mit einem Monopol öffentlich-rechtlicher Berichterstattung in Radio und Fernsehen, mit dem Auftrag, der den Medien in der Verfassung zukommt: als kritischer Spiegel der Macht.

Alles, was wir erleben konnten, hatte mit diesem Auftrag nichts zu tun, mit den Geschichten hingegen aus Verlorene Illusionen des Honoré de Balzac sehr viel. Wir wurden Zeugen einer reinen Spekulation auf die politische Manipulation der Bevölkerung, was die Interessen der Mächtigen betraf und betrifft. Und wir wurden Zeugen, welcher Mittel man sich dabei bedient. Sie entsprechen ebenfalls den Tricks und Finessen des Genres aus den Zeiten des Bürgerkönigs zu Paris. Die großen Themen, mit denen wir es zu tun hatten, die Ukraine und die Europawahlen, gerieten zu Propagandafeldzügen, inszeniert mit ungeheuren Schauergeschichten, die immer nur an niedere Instinkte appellierten, die immer darauf aus waren, Opposition zu diskriminieren, selten aufklärten und zumeist den Mächtigen zunutze waren.

Die wilden Geschichten sollen hier nicht wiederholt werden, denn das führt zu nichts. Man kann nur reklamieren, dass der Auftrag, der in der Verfassung steht und aus dem der damalige Bundesverfassungsrichter Roman Herzog das geradezu unangefochtene Monopol der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten abgeleitet hat, nicht erfüllt worden ist. Das hat fast zu einem Krieg geführt und dazu beigetragen, Europa zu spalten. Denn bei dem Krim-Konflikt wurde bereits von militärischen Interventionen gesprochen, die nun notwendig seien und bei den Europawahlen wurden alle, die Kritisches zu der gegenwärtigen Führung der EU zum Ausdruck brachten, kurzerhand als Europahasser deklariert.

Man kann es von zweierlei Standpunkten aus betrachten. Einerseits ist es böse Propaganda, was die öffentlich-rechtlichen Anstalten, und als solche sollten sie weiterhin bezeichnet werden, produzierten. Andererseits sind dort Menschen am Werk, die schlichtweg in den Zeiten des ach so demokratischen Internets sozialisiert wurden, die gar keinen Schimmer davon haben, was guter, kritischer und seriöser Journalismus bedeutet. Frau Krone-Schmalz hat das in einem längeren Interview alles sehr kritisch unterlegt und es sei jedem empfohlen, weil sie immer sehr sachlich blieb und sich auf das journalistische Handwerk beschränkte.

Interessant ist es zu wissen, wie die Russen in dem Konflikt empfinden, wie die Opposition gegen Putin jenseits von Pussy Riot oder Chodorkowski aussieht und welche Mechanismen wirken bei der Meinungs- und Parteienbildung in diesem großen, untrennbar zu Europa gehörenden Land. Und ebenso wichtig ist es, eine Idee davon zu bekommen, wie sich die zahlreichen, und nicht unberechtigt zahlreichen Kritikerinnen und Kritiker der gegenwärtigen EU-Politik ein anderes Europa vorstellen, das besser funktioniert. Zu allem davon existiert kein Wort aus den Membranen eines zu 100 Prozent subventionierten Monopols. Wenn sich daran nichts ändert, blühen uns böse Zeiten. Man mache sich keine Illusionen.

Gabriel Garcia Marquez. Erzählung und Nationenbildung

Gabriel Garcia Marquez ist tot. Mit 87 schied er dahin. Nach einem langen, erfüllten Leben, in dem er Werke schuf, die lange noch gelesen werden. Hundert Jahre Einsamkeit oder Die Liebe in Zeiten der Cholera sind große Erzählungen, die heute unter dem Begriff des magischen Realismus geführt werden. Doch das ist eine literarische Kategorie, die zwar das Werk beschreibt, aber nicht seine Wirkung. Nach dem Tod von Marquez verordnete der kolumbianische Präsident eine dreitägige Staatstrauer. Das ist die Wirkung. Gabriel Garcia Marquez war der große Erzähler der kolumbianischen Nation. Er hatte das geschaffen, was vielleicht am besten als die Metapher des kolumbianischen Volkes beschrieben werden kann. Er entnahm seinen Stoff aus den alltäglichen Lebensbedingungen, aus den Merkwürdigkeiten, die die Leute daraus ableiteten und woraus sie ihre Motivation entwickelten. Das heißt, Marquez traf den Nerv des Geistes und der Emotion. Es gelang ihm, indem er sich zeit seines Lebens als Bestandteil des großen Ganzen fühlte und auch so verhielt. Marquez lebte in keinem Elfenbeinturm, in dem die Sprache und die Bilder des Volkes verblichen.

Es sind die großen Erzähler, die in der Lage sind, an so etwas wie einer nationalen Identität mitzuarbeiten, die einzelne politische Episoden und Systeme überdauert. Charles Dickens war so einer, den in London mehr als eine halbe Millionen Menschen zu Grabe trugen. Tolstoi und Puschkin, die in Moskau ihre Denkmäler haben, ertrinken täglich in einem Meer frischer Blumen. Und ein Zola oder Balzac sind auf ihren Friedhöfen zu Paris bis heute nie allein. Und ein John Steinbeck gehört zum amerikanischen Geschichtsunterricht bis in unsere Zeit, ein Mark Twain genießt immer noch Kultstatus. Die Zuneigung, die die genannten Schriftsteller bis heute in ihren Ursprungsländern erfahren, resultiert aus ihrer Untrennbarkeit von den allgemeinen Lebensbedingungen und Nöten ihrer Völker. Sie sind der Grundstein, der emotionale Konsensus der Nation.

In Deutschland, dem so genannten Land der Dichter und Denker, das spöttisch von Franzosen wie Briten so bezeichnet wurde, weil es sich mit der Nationenbildung so schwer tat, fehlen derartige Gestalten. Natürlich gab es große Schriftsteller und Erzähler, aber sie trafen keinen nationalen Konsens. Schiller läutete mit seinen aufregenden Dramen das bürgerliche Zeitalter
ein und schrieb für die treibende Klasse, Goethe war schon das, was man die deutsche Krankheit nennen könnte, er schuf Geniales, aber als Staatsbeamter, Heine musste als jüdischer Bildungsparvenü ins Exil, Lessing, emanzipatorisch wie er war, schrieb Fabeln, die zu anspruchsvoll waren, Brecht widmete alles der neuen Klasse des Industriezeitalters, Thomas Mann verschrieb sich einem elitären Ästhetizismus. Der große Erzähler, der in aller Bücherschrank steht und der zur Überlieferung des allgemein als gültig Erachteten konnte in dem nationalen Bruchstück, das Deutschland immer blieb, nicht gedeihen. Es gab diese Erzähler, aber sie hatten immer nur regionale Wirkung.

Es kann nur bei einer Feststellung bleiben. Die Sinnstiftung, die durch die literarische Überlieferung des nationalen Psychogramms einem Land widerfährt, blieb in Deutschland aus. Umso bewundernswerter ist es, wenn so etwas woanders gelingt. Die Deutschen sollten sich dessen bewusst sein. Man kann sie dafür nicht haftbar machen. Aber es erklärt vieles. Umso respektvoller sollte der Blick in die Länder sein, wo die Dramaturgie der Geschichte so etwas schuf. Gabriel Garcia Marquez war für die Kolumbianer so ein Glücksfall. Er ist aus der Geschichte so wenig wegzudenken wie das Volk selbst. Eine Kongruenz, für die es dankbar ist.

La Comédie Humaine

Die Deutschen sind es, die sich in ihrer Geschichte mehr als abgemüht haben, die Welt durch ein jeweiliges System erklären zu wollen. Das lag nicht an ihrem Genius, wie manche gerne zu glauben bereit sind, sondern an ihrem nahezu genetisch nachweisbaren Dogmatismus und einer atypisch verlaufenden Beweisführung der Aufklärung. Der erste und allumfassende Versuch, die Welt und ihre Funktionsweise zu erklären, ist die monotheistische Religion. Das Christentum in Europa und Deutschland reklamierte selbstverständlich in seiner Blüte die Exklusivität der Weltdeutung. Und als es an der Zeit war, die Welt neu zu denken, weil das Denken selbst systematischer wurde, da war es Luthers Reformation, die das Himmlische irdischer machte und die Verantwortung des Menschen vergrößerte, aber das inhärente System der Welterklärung blieb seinem Wesen nach erhalten.

Was folgte, war die so genannte klassische deutsche Philosophie, ob Fichte oder Feuerbach, Schelling, Kant oder Hegel, sie alle entliehen den holistischen Interpretationsanspruch auf ihr eigenes System, bei dem nichts ausgespart blieb. Das entwickelte sich so pathologisch, dass bis in die deutsche Bürokratie hinein nie eine Toleranz zugelassen wurde, die auch nur eine Erscheinung des Lebens der Deutungshoheit des Systems entgleiten ließe. Einmal im System, immer im System.

Heute, in einem neuen Zenit der Komplexität, erscheint das alles doch sehr verwegen, wiewohl es keine Revision dieses Anspruches gibt. Nirgendwo auf der Welt ist die systemische Regelungs- und Erfassungsmanie so ausgeprägt wie hier und nirgendwo ist die Laune so schlecht, weil jede Abweichung den Ertrag verdirbt. Politisch interessant hingegen ist der aus dem sakrosankten Holismus abgeleitete Aberglaube, dass alles, was menschliche Kreaturen so anstellten, doch eigentlich durch eine systemische Reflexion in Bewegung gesetzt worden sein müsse, weil sonst doch alles keinen Sinn mache. Nur: Es ist nicht so. Auch die Deutschen, ob sie es nun wahrhaben wollen oder nicht, sind triebgesteuerte Wesen, die nicht immer eine Religion, ein philosophisches System oder eine Verwaltungsrichtlinie im Kopf haben, wenn sie eine Türklinke herunterdrücken, ein Schnäpschen kippen oder von einem sexuellen Kontakt träumen. Das Gräuel eines jeden Gedankensystems herrscht auch hier, im Homeland des puristischen Geistes: Es menschelt überall.

Vielleicht sollten wir doch in vielerlei Hinsicht dieser Erkenntnis einige praktische Konsequenzen folgen lassen und die Tatsache einfach anerkennen. Die Aufklärung hatte auch zur Folge, dass die Zwangsjacken entsorgt wurden. Wenn heute auch unaufgeklärte Menschen sich weigern, diese wieder anzuziehen, sollte das nicht verärgern. Das Recht auf unreflektierten Irrtum sollten wir nicht so einfach in den Wind schlagen. Denn für manche Existenzen ist der Moment des Untergangs der vielleicht schönste hier auf Erden.

Und vielleicht sollten wir uns einmal, ganz zur Entspannung, der epistemologischen Libertinage in manchen Phasen der französischen Geschichte erinnern, in denen ein Balzac sich die luxuriöse Frivolität erlaubte, wie Welt mit einem immensen Fortsetzungs- und Beziehungsroman zu revolutionieren, ohne gleich von einem System zu sprechen. Mehr noch: Er besaß die Frechheit, das Monumentalwerk auch noch die Comedie Humaine zu nennen. Statt zu glorifizieren und zu maximalisieren miniaturisierte Honoré de Balzac das Gewese um die menschliche Existenz, ohne auch nur in einer Zeile die Deutungshoheit zu verlieren. Was er aber der Ratio des Betrachters hinzufügte war etwas, das allen so unbestechlichen Gedankensystemen abgeht: Er fügte eine Wärme hinzu, die das Seelchen braucht, wenn der Kopf in Kälte erstarrt. Das erzeugt Demut. Und Systeme ohne Demut, die sollten wir uns einfach nicht leisten.