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Zur Verselbständigung der politischen Klasse

Immer mehr Menschen unterschiedlicher politischer Lager sind zu dem Schluss gekommen, dass es so nicht mehr weiter gehen kann. Gemeint ist das Selbstverständnis vieler politischer Mandatsträger. Sie scheinen der Auffassung zu sein, dass es ausreicht, blödsinnige Selfies in allen möglichen abstrusen Lebenslagen zu machen, um zu beweisen, dass es sich bei ihnen um bewundernswürdige Individuen handelt. Und tatsächlich: sieht man sich die rudimentären, sinnfreien und zudem oft sprachlich fragwürdigen Texte an, mit denen das oft  motivfreie Grinsen untermalt wird, dann kann man nur zu dem Urteil kommen, dass da etwas vollkommen missverstanden worden ist. Ein politisches Mandat ist und bleibt der Auftrag, im Sinne der gesamten Wählerschaft Ergebnisse zu erzielen und Bedingungen schaffen, die den Interessen der Auftraggeber entsprechen. Es geht nicht um Selbstdarstellung, sondern um die Ausführung eines Auftrages. Und sieht man sich zudem das, welchen Titel manche Gesetze, die da auf den Weg gebracht werden tragen, dann wird klar, dass die Auftraggeber schon lange nicht mehr ernst genommen werden. Und wenn man zudem hört, dass selbst Trägerinnen der Bezeichnung  Minister, der ja bekanntlich Dienen bedeutet, vor laufenden Mikrophonen herumtönen, sie hielten an ihren Positionen fest, auch wenn es den eigenen Wählern nicht gefalle, und es sich dabei um die Frage von Krieg und Frieden handelt, dann ist es keine Übertreibung von einer Staatskrise zu sprechen. 

Es mehren sich die Überlegungen, wie der selbstverliebten Entfernung der politischen Mandatsträger begegnet werden kann. Eine der Überlegungen wurde von dem belgischen Autor David van Reybrouck sehr überzeugend in einer kleinen Abhandlung (Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist) dargelegt, in der er unter anderem nachwies, dass der genuine Gedanke der Mandatierung in der griechischen Genese der Demokratie das Losverfahren gewesen sei. Es hieße, dass bei dem Konstrukt der heutigen Demokratie zumindest verstärkt bei der Erarbeitung von Gesetzen und der Entwicklung von Lösungsansätzen das Los über die aus der Gesellschaft zu rekrutierenden Mitglieder solcher Kommissionen entscheiden sollte. Fachlichen Rat können sich solche Gremien ebenso einkaufen wie Berufspolitiker. Und Beispiele dafür, dass solche Zusammenschlüsse sehr gute Ergebnisse erzielen, liegen bereits vor.

Eine weitere Überlegung wäre, und die stellt Harald Welzer in seinem neuen Buch an (Zeitenende. Politik ohne Leitbild. Gesellschaft in Gefahr), nämlich festzulegen, dass man sich lediglich für eine Legislaturperiode wählen lassen kann. Dann wären die Parlamente voll mit Menschen, die die Höhen und Tiefen einer bürgerlichen Existenz kennen und die wissen, dass sie nach dem Mandat  in die Mitte der Gesellschaft zurückkehren werden und ihre zwischenzeitliche Betätigung zu einem direkten Feedback führen würde.  

In beiden Fällen, dem Losverfahren wie der Beschränkung der Wahrnehmung politischer Funktionen auf eine Wahlperiode, handelte es sich um probate Mittel, um der Verselbständigung einer politischen Klasse zu begegnen. Das Argument, eine solche Konstruktion käme nicht an die Qualität heran, die in einer komplexen, international agierenden Gesellschaft erforderlich sei, muss man nur mit dem konfrontieren, was die Politik in den letzten Jahrzehnten angesichts eines multiplen Krisenmanagements vermocht hat. Die Bilanz ist alles andere als überzeugend. Im Gegensatz dazu steht die Einschätzung, dass die Kernkompetenz eines Gemeinwesens aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Zudem sollte man sich – nach Jahrzehnten des Wirtschaftsliberalismus mit seinen destruktiven Folgen für das Gemeinwesen – von der Illusion verabschieden, es ginge um eine wie auch immer geartete Weiterentwicklung. Nein, es geht um eine Rekonstruktion. Die Fundamente sind durch eine Algorithmus gesteuerte Kommunikation bereits zerstört. 

Losverfahren als Urform der Demokratie

David van Reybrouck, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist

Nahezu eingestanzt in das Bewusstsein der zeitgenössischen Betrachtung ist der Glaube, dass es sich bei Wahlen um die Urform der Demokratie an sich handelt. Es hat lange und einer immer weiter anschwellenden Krise gebraucht, die unter dem Namen Demokratiemüdigkeitssydrom die Runde macht, dass sich Unzufriedene mit den gegenwärtigen Zuständen die Mühe gemacht haben, der Sache mit den Wahlen auf den Grund zu gehen. Der belgische Autor David van Reybrouck hat dieses in seinem Buch „Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ getan. Aber eins nach dem anderen.

In seiner Analyse beschreibt van Reybrouck zunächst das erwähnte Demokratiemüdigkeitssyndrom. Die beiden Referenzgrößen, die das Problem in Kern treffen, sind Legitimität und Effizienz. Einerseits wächst die Klage über eine durch Wahlen immer wieder bestätigte politische Klasse, die sich von den Lebensbedingungen der Bevölkerung entfernt hat und die nicht mehr mit dem Volk und für das Volk agiert, sondern eigenen, anderen Bedürfnissen verpflichtet ist. Und andererseits sind die im elektoral-repräsentativen System etablierten Prozeduren zu lang und zu kompliziert, als dass noch von einer den Erfordernissen entsprechenden Effizienz gesprochen werden könnte.

Der Autor wirft einen Blick auf die athenische Genese der Demokratie und legt offen, dass Wahlen immer ein Privileg der Aristokratie waren, Losverfahren jedoch die Garantie der tatsächlichen Beteiligung und Steuerung ausmachten. Die Zeit, in denen ausgeloste Bürger sich zu politischen Entscheidungen berieten, waren zeitlich limitiert und nach Beschlussfassung konsequent beendet. Aristoteles fasste das Verfahren als ein Synonym für die Freiheit auf, nämlich beides zu erfahren, zu regieren und regiert zu werden.

Die beiden Blaupausen der westlichen modernen Demokratie, die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika und die Französische Revolution, blieben, analog zur athenischen nur bestimmten Klassen und Rassen vorbehalten. Darin sieht van Reybrouck den Grund für die Abschaffung der Losverfahren, des aleatorischen Prinzips, und die Adaption des aristokratischen Prinzips von Wahlen. Fortan gelten Wahlen als das Synonym für Demokratie, was nicht der Genese des politischen Systems entspricht und nun immer offensichtlicher in legitimatorischer wie effizienter Weise scheitert.

In einem weiteren Teil führt van Reybrouck aus, wie sich seit der Jahrtausendwende zunehmend der Gedanke an Losverfahren wieder Gehör verschafft und wo an welchen Stellen damit experimentiert wird. All jenen, die wie die Kaninchen vor der Schlange gebannt auf die turnusmäßigen Wahlen starren, mag es entgangen sein, aber die Krise des Systems öffnet der direkten Beteiligung zunehmend die Türen. Beispiele aus den Niederlanden, Belgien, Großbritannien, Kanada und den USA belegen, dass der Gedanke der durch Losverfahren erstellte Gremien zur politischen Entscheidungsfindung unter den unterschiedlichsten Bezeichnungen zu einer markanten Bewegung geführt haben. In ihnen liegt die Chance einer notwendigen, einer lebensnotwendigen Erneuerung des politischen Systems. 

Van Reybroucks Buch ist aufklärerisch und inspirierend zugleich und es weist darauf hin, dass Demokratie heißt, gemeinsam über die Zukunft zu beraten und nicht, sich gegenseitig einen Kampf um Ressourcen zu liefern und im Status Quo zu verharren.

  • Herausgeber  :  Wallstein; 1. Edition (1. August 2016)
  • Sprache  :  Deutsch
  • Taschenbuch  :  200 Seiten
  • ISBN-10  :  3835318713
  • ISBN-13  :  978-3835318717
  • Abmessungen  :  12.4 x 2 x 21.1 cm