Die bürgerliche Revolution, so wie sie im benachbarten Frankreich urgeschichtlich gestanzt wurde, lebte von dem faszinierend einfachen Slogan Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit. Man sollte eben nie vergessen, wer bestimmte Revolutionen trägt und darin seine vornehmlichen Interessen vertritt. Übersetzt in die zeitgenössische Terminologie bedeutete die Freiheit in diesem Kontext das Recht des unabhängigen Subjektes, zu gestalten. Mit Gleichheit schlugen die Revolutionäre das ganze System der feudalen Privilegien zusammen und setzten an deren Stelle die formale, rechtliche Gleichheit. Und Brüderlichkeit suggerierte dieser radikalen Massenbewegung sogleich das Bindemittel für die neue Gesellschaft: Es sollte ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Intentionalität sämtlicher Akteure geben. Alles andere ist Sozialromantik, die man später gerne hinzufügte, um den kalten Hintern der Bourgeoisie etwas zu bedecken. Aber auch ohne Schurz war das wirtschaftlich freie und gleiche Bürgertum, das eine Einsicht in die Notwendigkeiten der Gemeinschaft mitbrachte, der wohl größte Quantensprung in der Entwicklung zur Moderne.
Wie so oft im unerbittlichen Schreiten des Chronos goutiert sich die Nachwelt an immer neuen Interpretationsversuchen derartiger historischer Einschnitte. Zum Teil ist so etwas sogar notwendig, beschreibt es doch Fragen, die aufgeworfen werden müssen, wenn Komplexität und Diversität zunehmen. So klingt die formale Freiheit vielen als Zynismus, die de facto nie die Bedingungen antrafen, derer es bedurft hätte, um wirklich frei zu handeln. Ein Mittelloser, der über wenig Bildung und Selbstvertrauen verfügt, egal aus welchem Grunde, empfindet schon die unternehmerische Freiheit als ein Privileg, das ihm immer verwehrt sein wird. Und er wird auch die formale Gleichheit vor dem Gesetz nur dann genießen können, wenn er sich mit seinesgleichen vergleicht. Gesellschaftlich Starke, die können sich gute Anwälte leisten, die verfügen über einflussreiche Netzwerke und die wirken in die Meinungsbildung hinein. Und der Mittellose wird sich ebenfalls eher verhöhnt fühlen, wenn er beobachtet, wieweit die Einsicht der Starken in die Notwendigkeit des Ganzen gesunken ist.
In Deutschland, wo die bürgerliche Revolution schon in ihrem Urstadium eine relativ bescheidene Sache war, haben sich weder die Rechtsgrundsätze der bürgerlichen Revolution noch ihre den Werten verpflichtete Ethik je so richtig etablieren können. Wie selten in der Geschichte wurde hier ein Stück aufgeführt, bei dem das freie Subjekt des handelnden, gestaltenden Bürgers nahezu keine Rolle spielte. Entweder kamen überzeugte Monarchisten dem Bürgertum zuvor und reformierten das Gemeinwesen von „oben“, d.h. dirigistisch und despotisch, oder die proletarischen Massen beendeten den letzten, vom Monarchismus angezettelten Krieg und bereiteten den Weg für eine dem Ancién Regime friedlich gesonnene republikanische Regierung, die auf dem rechten Auge blind war. Das Bürgertum lag immer in heißem Wachs, etwas düpiert, doch meistens regungslos.
So mag es nicht verwundern, dass sich ein Fragment der späteren, proletarischen Revolution, die übrigens auch in Deutschland keine Chance hatte, in den zeitgenössischen politischen Diskurs eingeschlichen hat, das enorme Sprengkraft bürge, würde es auch umgesetzt. Es handelt sich um den Begriff der Gerechtigkeit, der viel weitergehend ist als die formale Gleichheit, der aber durch seine Nähe zu einer kommunistischen Vision kaum eine Chance hat, je Realität zu werden. Und so unterliegt das Diktum der Gerechtigkeit einem Schicksal, das ihm gar nicht Recht sein kann. Es wird benutzt, um Illusionen zu schüren über die sozialen Möglichkeiten von Politik. Der Ansatz führt in die Irre. Formale Gleichheit und Freiheit sowie eine nachweisbare Einsicht in die Notwendigkeiten des Gemeinwesens sind hier und heute immer noch ein sehr radikaler Maßstab.
