Schlagwort-Archive: Demokratie

Vierzig Jahre Nelkenrevolution

Die Portugiesen sagen von sich selbst, sie seien immer und überall mit der Geschichte verbunden. So ist es nicht verwunderlich, dass heute, im Mai 2014, überall darüber gesprochen wird, was aus dem Land geworden ist. Denn nahezu genau vor vierzig Jahren, in der Nacht zum 25. April 1974, wurde zunächst das Lied Despois do Adeus im Radio gespielt, das als Signal vereinbart war. Danach fielen Schüsse im Lissabonner Nachthimmel und um 0.20 Uhr dann wurde wiederum aus dem Lied Grandola, Vila Morena rezitiert und damit klar, dass eine Diktatur, die 1932 mit Salazar begonnen hatte und seit 1968 durch Caetano weitergeführt wurde, vorbei war. Das Militär selbst hatte dem Spuk, der über vierzig Jahre das Land gelähmt, die Gefängnisse gefüllt und die Exilquote nach oben getrieben hatte, ein Ende bereitet. Ohne großen Widerstand wurden die wichtigsten strategischen Punkte eingenommen. Insgesamt forderte der Aufstand der Militärs vier Tote und e sollte als einer der friedlichsten von Uniformträgern in die Geschichte eingehen. Als Zeichen der Sympathie steckten die Menschen den Soldaten überall, wo sie auftauchten, rote Nelken in die Gewehrläufe.

Dass zum Zeitpunkt des Aufstands der junge Führer der sozialistischen Partei, Mario Soares, zufällig beim Vorsitzenden der Sozialistischen Internationale, Willy Brandt, in Berlin weilte, wird bis heute von den Zeitzeugen als purer Zufall beschrieben. Deutlich wurde jedoch, dass die portugiesischen Militärs keiner Demokratisierung im Weg standen und der Bildung von Verfassungsorganen nicht nur zustimmten, sondern sich diesen unterordneten. Es wurde sehr schnell deutlich, dass es einen Masterplan seitens der Sozialistischen Internationale, analog zu Spanien, auch für Portugal gab. Der sah eine verfassungsmäßige Demokratie und die Integration in die Europäische Union vor. Der Gedanke, der sich dahinter verbarg, war die nachvollziehbare Einsicht, dass das Land dringend Hilfe bei der Entwicklung einer zeitgemäßen Infrastruktur brauchte und zunächst auch Zugang zu den europäischen Märkten.

Heute, wenn sich Portugiesen über die Entwicklung seitdem unterhalten, dominiert zumeist der Zwiespalt. Der Wechsel von der Diktatur zu Verhältnissen, in denen sich die Bürger ohne Repression und politische Verfolgung äußern können, wird als großes Verdienst der damaligen Revolution und der Folgejahre bewertet, die wirtschaftliche Entwicklung ebenfalls, bis zu dem Punkt, an dem die Geldpolitik der EU einem qualitativen Wandel unterlag, unter dem das gesamte Südeuropa gelitten hat. Die Geldmenge, ins Land getrieben und nahezu gepresst von den Banken und großen Fonds des europäischen Establishments, hat die mit dem Risiko spielenden Kräfte im Land inspiriert und auch den Staat zu einem Konsumverhalten verleitet, der in keiner Relation zur tatsächlichen Liquidität stand. Bei vielen steht allerdings nicht die Sorge um die Verschuldung im Vordergrund, sondern die Unfähigkeit, in den nächsten Jahren zu investieren. Dass die EU dem Sparcredo des IMF in allen Belangen folgt, steht in umgekehrter Relation zu dem vorherigen Verhalten, als regelrecht mit dem Geldsack auf das Land eingeschlagen wurde.

Neben der mangelnden Fähigkeit, in die wirtschaftliche und wissenschaftliche Erneuerung zu investieren kommt eine Arbeitslosenquote von knapp sechzehn Prozent hinzu. Zudem ziehen viele junge, zumeist die qualifiziertesten Menschen ins Ausland ab, weil sie in Portugal selbst keine Perspektive sehen. Das ist, und da werden die Debattierenden jedesmal sanguinisch, das schlimmste, was uns passiert. Wer einem die Jugend raubt, der hat kein Herz. Das geht an die Adresse der Mächtigen in der EU, die hier, wo so vieles begann, das mit der europäischen Aufbruchstimmung beschrieben wurde, zunehmend als Problem, und nicht als Lösung betrachtet werden.

Charles Spencer Chaplin

Wir kannten ihn alle, als Kinder. Er war die Figur, die uns in ferne Welten fliehen ließ, die unser Dasein kannte und uns Trost spendete. Und die uns lehrte, das Tragische des Alltags auch mit einem lachenden Auge zu sehen. Helden von Kindern sind schnell verblichen. Er blieb. Weil er es vermochte, uns nicht nur als Kindern etwas mitzuteilen, sondern auch später noch sehr viel Stoff bot, sich mit ihm zu befassen. Da waren die große Stadt und die Fabrik, da war die Liebe und das Leben unterwegs. Alles das waren unsere Themen. Wir flohen vom Land in die großen Städte, wir jobbten in Fabriken und wir verliebten uns über soziale Barrieren hinweg. Das alles war uns von ihm schon in unserer Kindheit erzählt worden, ohne dass wir es bewusst registriert hätten. Das ist Kunst. Das ist große Kunst.

Viele Jahre später, als ich unterwegs war, da traf ich ihn wieder. In London. Soho. In einem kleinen Park inmitten des täglichen Trubels waren neben den Bänken die Büsten von britischen Literaten, Dickens, Yeats, unter ihren mächtigen Köpfen standen der jeweilige Name und die Lebensdaten. Und dann war da noch eine Skulptur, der kleine Mann mit dem eigenwilligen Schnurrbart, dem feinen Spazierstock und den ausgelatschten Schuhen. He gave so much fun to so many people. Das war alles, was zu lesen war. Mehr brauchte es nicht in Soho, dem pulsierenden Theaterviertel Londons. Charles Spencer Chaplin war über seine Heimatstadt weltweit bekannt.

Charlie Chaplin eroberte Hollywood, als es noch kein Hollywood war, in Zeiten des Stummfilms und der erbärmlichen Drehbücher, in denen in der Regel ein Polizist mit einem Knüppel einen armen Teufel versohlte, woher auch dann der Name des Genres, Slapstick, stammte. Chaplin kam, schlüpfte in das Klischee der komischen Figur und inszenierte eine der wohl wirkungsvollsten Kulturkritiken der Moderne. Er thematisierte die Ausbeutung und Entfremdung (Modern Times), die Entwurzelung in Zeiten der Kapitalakkumulation (The Tramp), der Vereinsamung (City Lights) und sozialen Verarmung (The Kid). Dass er später noch den großen Diktator seiner Epoche persiflierte, und zwar vertont, ist nur eine Randnotiz eines vermeintlichen Komikerlebens, das nicht hätte politischer sein können. Chaplin war Europäer, und das blieb er auch in den langen Jahren seines Erfolges in den USA. Sein Demokratieverständnis gehorchte keinen Wellen, sondern es blieb stabil, auch nachdem Hitler längst auf dem Misthaufen der Geschichte lag und sich in den USA der McCarthy-Ära der Kalte Krieg formierte. Chaplin pflegte nach wie vor auch Kontakt zu Kommunisten und blies nicht in das Horn des Neonationalismus.

So konnte er nach einer Europareise nicht wieder in die USA einreisen und wählte als letztes Domizil die Schweiz. Da war er aber schon eine Legende. Durch sein künstlerisches Schaffen hatte er es vermocht, Bewegendes und Geistreiches für alle Bildungsgrade zu inszenieren und zu transformieren. Das können nur wenige. Charlie Chaplin war ein Großmeister dieser wenigen. Denn wer denkt schon daran, wenn er sich heute noch einmal diese Wackelfilme anschaut, dass diese es vermochten, dem Publikum eine Intuition dafür zu verschaffen, dass zum Glück das Unglück, zur Macht das Joch, zum Gigantischen die kleine Sorge und zum Strahlenden der Schatten gehört? Ich habe ihn vor Augen, wie er vor mir steht, in Soho, ohne seinen Namen zu nennen, weil das auch gar nicht nötig ist. Heute hätte er Geburtstag.

Die zentrifugalen Kräfte Europas

Wenn es eine politische Programmatik gibt, mit der die Europäische Union nun seit Jahrzehnten auf den Markt geht, dann ist es die der Integration. Um zu verstehen, was sich dahinter verbirgt, hilft ein kurzer Blick in die Historie. Das, was wir heute als die EU ansehen, von den Azoren bis zur russischen Grenze und von Skandinavien bis an die Küsten Afrikas, begann als eine Wirtschafts- und Zollunion von Belgien, den Niederlanden und Luxembourg als BENELUX und wurde später zu der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG. Das genuine Ziel der EU war Handelsvereinfachung zu gegenseitigem wirtschaftlichen Vorteil. Immer wieder genährt durch die Wunden des II. Weltkriegs waren es vor allem die Spitzenpolitiker Frankreichs und Deutschlands, die mehr aus dieser Wirtschaftsunion machen wollten, nämlich ein politisches, friedenssicherndes Bündnis in dem die Demokratie zuhause ist.

Betrachten wird den Koloss EU in seinem gegenwärtigen Zustand, dann hat die Retrospektive etwas regelrecht Putziges an sich. Wir stehen nicht nur einer enormen Ausdehnung gegenüber, sondern auch einer ungeheuren wirtschaftlichen Disparität und einer politischen Asynchronität, die in der Geschichte von nicht-militärischen Bündnissen wohl einzigartig ist. Dazu kommt eine Brüsseler Bürokratie, die den Monolithen mit dem Jonglieren von gigantischen Transferleistungen in Schach zu halten sucht. Die im 2008 aufgepoppte Weltfinanzkrise hat dazu geführt, dass die unterschiedliche Machtverteilung das Szenario einer Vereinigung zu gegenseitigem Vorteil hat zum Bersten bringen lassen. Der wachsende Zentralismus der EU hat eine spirituelle Enge in den verschiedenen Ländern der Union erzeugt, die zunehmend mit separatistischen Bewegungen beantwortet wird.

Natürlich gab es historisch auch ohne EU Separatismus in Europa, aber die Häufung sollte doch nach Jahrzehnten der Re-Education unter dem Slogan Europäische Integration Anlass zum Nachdenken geben. Gerade in diesen Tagen stehen gar Referenden an, wie in Schottland, wo es um die Abtrennung von Großbritannien geht, nicht von der EU. In Venedig hat sich eine Initiative gebildet, die bereits an die Mehrheitsmarke schwappt und die Abtrennung von Italien zum Ziel hat. Ähnliches geschieht seit Jahrzehnten in Katalonien, da geht es um die Trennung von Spanien und ist wie in Venedig eine Variante des Wohlstandsseparatismus. Dass dort ausgerechnet Pep Guardiola zu den Galionsfiguren gehört, ist sehr folgerichtig, denn mit diesem Programm der ethischen Verwahrlosung passt er gut nach Bayern. Und dass so mir nicht dir nichts Hunderttausende in Bilbao für die Verlegung von ETA-Gefangenen von Spanien ins Baskenland demonstrieren, sollte auch in gewisser Weise zu denken geben.

Das Interessante an dem Modell Demokratie im Kontext der EU ist die Tatsache, dass wir trotz einer ansteigenden Virulenz der Zentrifugalkräfte im europäischen Kernland aus den öffentlich-rechtlichen Medien kaum etwas erfahren. Während jeden Abend in den Nachrichtensendungen die Mülltonnen auf der Krim von innen und außen ausgeleuchtet werden, erfahren wir nichts aus Venedig, Mailand, Barcelona oder Bilbao. Da liegt nichts näher als die alte Weisheit aus den Arsenalen der Macht, dass es bei inneren Konflikten ratsam ist, einen Feind von außen aufzubauen, an dem man sich emotional abarbeiten kann und der die zerstrittene Familie zumindest wieder für einen Augenblick vereint. Ob letzteres gelingt, ist mehr als fraglich. Und die Probleme, die strukturell im Wesen der Union begründet liegen, wird das russische Feindbild schon gar nicht lösen. Da wären eher Felder wie direkte Demokratie oder Autonomie im aufgeklärten Sinne anzusteuern. Das liegt den Kriegsrittern des aktuellen Molochs allerdings fern.