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Wer jetzt für den Krieg eintritt, ölt seine Ketten!

Eine Gesellschaft, die sich sukzessive von der Befriedigung der tatsächlichen humanen Bedürfnisse verabschiedet hat und sich lediglich durch Kompensationshandlungen über Wasser hält, steht auf fragilem Grund. Jahrzehnte des Neoliberalismus, seinerseits eine Raubtierideologie, die weit über die tatsächlichen Rücksichtslosigkeiten von animalischen Bestien hinausgeht,  hat dafür gesorgt, dass das, was soziale Wesen ausmacht, nämlich die Kooperation, allenfalls als ein temporär notwendiger Zustand durchgeht, bevor es wieder losgeht in Richtung Kehle des Anderen. 

Ein bis in den Irrsinn übersteigender Konsumismus, der sich in einem die Unfähigkeit zu amourösen Handlungen ablösenden Fetischismus auslebt, hat seinerseits ein Stadium erreicht, das als Superlativ des Konkurrenzsystems gesehen werden muss. Wer sich bestimmte Produkte und Dienstleistungen, die jenseits aller monetären Logik angeboten werden, leisten kann, gehört zu einer Elite, die in puncto Nichtsnutzigkeit im gesellschaftlichen Sinne tatsächlich einen Höhepunkt darstellt. Und wem sich dieser Konsum verschließt, der gehört zu den Deplorables, ein Terminus, der traurige Berühmtheit für die verkommene Sichtweise dieser Elite erreicht hat.

Dass die kollektive Entsagung von dem, was als humane Lebensqualität bezeichnet werden muss, zu dem führt, was unweigerlich kommen muss, nämlich einer radikalen Abkehr von diesem System der Verwehrung, ist seit langem absehbar. Begegnet wurde dem mit einem Kanon von sogenannten neuen Werten, die die Entsagung zu einem moralischen Überlegensein umdeuten soll. Gut gedacht. Und lange Zeit ebenso gut wirkend. 

Nur beginnt sich das Blatt zu wenden. Analog zu der gesellschaftlich aufoktroyierten Harmonie in südostasiatischen Gesellschaften, die dafür sorgt, dass die Individuen alle Widersprüche in sich hineinfressen, bis sie in Form des Amok zum Ausbruch kommen, mehren sich auch hier die Zeichen, dass die Ideologie, die als werte-basiert bezeichnet wird, die aber wenig mit den Rechtszuständen einer vernünftig begründeten Gesellschaft zu tun hat, in einem rapiden Prozess der Abnutzung begriffen ist.  

Das heißt nicht, dass automatisch der Blick frei wäre für die tatsächlichen Ursachen der eigenen Verletztheit und des daraus resultierenden Unwillens. Momentan äußert sich die Folge des Turbokapitalismus, seiner Ersatzhandlungen und der Ideologie der Selbstbeschränkung derer, die zu den Verlieren gehören, in einem wollüstigen Schrei nach Krieg und Vernichtung. Die denkbar schlimmste Möglichkeit der Reaktion. Der tägliche Genuss der Nachrichten und medial präsentierten Diskutanten dokumentiert jedoch diese These. Wer tief im Innern glaubt, tatsächlich nichts mehr gewinnen zu können, der hofft nach jahrzehntelanger neoliberaler Sozialisation, dass nur noch ein großer, destruktiver Knall ein Akt der Befreiung sein kann.

Genau an dieser Punkt ist anzusetzen. Neben der Schaffung kollektiver Netzwerke vernünftiger Kooperationen müssen alle Bemühungen dahin gehen, transparent zu machen, dass der Krieg und dem, was ihm folgen wird, die Tyrannei eines destruktiven Systems nur noch fortsetzen wird. Wer jetzt für den Krieg eintritt, ölt seine Ketten. Den Irren, die die Nuller ihrer eigenen Kontostände selbst intellektuell nicht mehr fassen können, die brillant sind in der Formulierung von Lügen und deren administratives Besteck aus nichts anderem besteht als im Beschluss von Sanktionen und der Lieferung von Waffen, winkt eine blendende Zukunft, wenn dieser Krieg nicht nur fortgesetzt, sondern wenn er noch weiter ausgedehnt wird. Deshalb arbeiten sie auch daran. Fieberhaft. Denen, die meinen, das Gemetzel lieferte zumindest eine Art emotionaler Befreiung  für den aufgestauten Unmut, werden nicht auf Seiten der Gewinner zu finden sein. Merken Sie sich das!

Die Stunde des Mikrokosmos

Persönliche Strategien können helfen. Zuweilen muten sie an wie Knastprogramme in exklusivem Umfeld. Eine durchdachte Diät, körperliche Ertüchtigung und feststehende Routinen. Das hilft, ist aber nur die Hälfte des Himmels. Alleine überleben die wenigsten. Was der Mensch braucht, ist soziale Interaktion und Gemeinschaft. Wem das komplett entzogen wird, der oder die kann sich kaum halten. Dass nun, als Folge einer längeren sozialen Isolation viele Gemüter nahezu explodieren, ist nicht unbedingt ein Grund zu völliger Überraschung. Einer forcierten Unterdrückung von Bedürfnissen – unabhängig davon, aus welchen Motiven sie veranlasst wurde  – folgt irgendwann die Gegenbewegung. Selbst bei dem Phänomen des Amok ist es, in seiner geographischen Ursprungsregion, das ewige und eisern herrschende Gesetz der Mäßigung, das die Menschen irgendwann in einen Zustand des Allesaußerkraftsetzens katapultiert. 

Der Umgang mit den Ausbrüchen der unterdrückten Regung zeigt, ob ein Verständnis für die Ursache vorliegt oder nicht. Doch unabhängig davon ist die entscheidende Frage, wie, neben den eigenen persönlichen Überlebensstrategien, die Gemeinschaft aussehen muss, die es ermöglicht, auch unter erschwerten Bedingungen zu lebenswerten Perspektiven zu gelangen. Der Begriff der Schicksalsgemeinschaft ist in vieler Hinsicht überfrachtet. Zudem bezieht er sich auf die negative Ausgangslage. Gemeinschaften, die sich darüber definieren, dass sie eine konkrete Gefahr überstehen, verlieren ihre Grundlage, wenn diese überstanden ist. Dann fallen sie auseinander. Wenn der Krieg vorbei ist, dann ist er vorbei und jeder geht seinen eigenen Weg.

Anders ist es, wenn nicht gesagt werden kann, wie lange ein bestimmter Zustand anhalten und ob er sich jemals ändern wird. Viele Faktoren des aktuellen Panoramas deuten darauf hin, dass vieles, das sich auf Infektionsmöglichkeiten bezieht, durchaus sehr lange so bleiben kann. Und noch mehr Erscheinungen suggerieren, dass sich vieles auch in gesellschaftlich-struktureller Hinsicht verändern wird. Ob da irgendwann irgendwer wieder seiner Wege geht, wie wir es aus der Erinnerung kennen, kann sich als frommer Wunsch entpuppen. Vieles spricht für eine verstärkte Notwendigkeit von Gemeinschaften, die gewaltige Stürme zu überstehen vermögen.

Der Vorteil einer intakten Gemeinschaft, einer Vereinigung, eines Kollektivs, eines Bundes, oder wie es immer auch genannt werden mag, besteht in der Fähigkeit der gegenseitigen Unterstützung, Hilfe und Stabilisierung. Das klingt vielen aus der Epoche der Hyperindividualisierung, die hinter uns liegt, sehr fremd. Sind die Zeiten jedoch so, wie beschrieben, d.h. sind die sie prägenden Ereignisse nicht als Episode zu apostrophieren, sondern haben sie das Potenzial für eine lange Dauer, dann reicht es als Grundlage zur Beschreibung nicht aus, das aktuelle Phänomen, das alle bedroht, quasi als programmatische Grundlage für die Gemeinsamkeit zu nehmen. Dann ist ein großer Sprung gefordert, und er muss visionäre Züge haben.

Um Missverständnissen vorzubeugen: es muss nicht expressis verbis um gesellschaftliche Visionen gehen, sondern es muss eine ideale Vorstellung davon existieren, wie sich die gefundene Gemeinschaft, heute, im Hier und Jetzt, idealtypischer Weise konstituiert. Und es klingt einfach, ist aber schwer zu machen. Die einzelnen Glieder müssen sich mit Respekt begegnen, sie müssen sich vertrauen und sie dürfen nicht glauben, zu wissen, wohin die Reise geht. Solidarität im freien Fall, so könnte es beschrieben werden. Das klingt halsbrecherisch, erscheint aber eine wichtige Dimension zu sein, die zum Erschließen einlädt. Und sie unterscheidet sich in gravierender Weise von den ganzen punktuellen, zweckrationalen Bündnissen, die momentan zu tausenden havarieren. 

Wir leben in der Stunde des Mikrokosmos. Ihn zu gestalten, ist eine gewaltige Chance. Nie war mehr Raum. Und wer jetzt zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wieder einmal?