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Ein Bruchteil des Kontinents

Europa ist ein Kontinent. Er reicht in seiner West-Ost-Ausdehnung von den Azoren bis zum Ural, im Norden von Norwegen und im Süden bis ans Mittelmeer. Historisch ist Europa immer ein diffiziles Gebilde gewesen, das sich in seiner Geschichte mächtig gerieben hat. Der Kontinent ist gezeichnet durch gewaltige Kriege, das überzogen wurde durch Völkerwanderungen, die ihre Spuren hinterließen, in denen Rom sein Imperium ausbaute, behauptete und wieder verlor, in denen Kulturkreise aufeinander stießen, sich arrangierten oder sich gegenseitig vernichteten. In diesem Europa bildeten sich Nationalstaaten heraus, die sich ihrerseits zu Imperien entwickelten, andere zu unterwerfen suchten und dabei selbst wieder auf sehr übersichtliches Maß zurecht gestutzt wurden. Dieser Kontinent war nie eine politische Einheit. Nie. Auch der Versuch, aus diesem Europa eine politische Einheit ohne Grenzen zu machen, war von Beginn an eine Anmaßung. Denn das Projekt beschränkte sich bereits in seiner Architektur auf ein kleines Segment des gesamten Kontinents. Das, was uns heute als das Europa suggeriert wird, ist ein kleiner Flickenteppich auf einem großen Kontinent.

Die Vision, die vor allem aus Deutschland und Frankreich nach dem II. Weltkrieg hervor quoll, war getränkt von dem Überdruss, den die verheerenden Kriege verursacht hatten. Das war allerdings nicht das erste Mal. Bereits der Dreißigjährige Krieg im 17. Jahrhundert hatte große Teile des Kontinents ins Verderben gestürzt. Dessen Quintessenz, aus der Erschöpfung geboren, war der Westfälische Frieden. Diesen sollten wir uns heute, in Zeiten der systemischen Krise, noch einmal genau ansehen. Denn sein Herzstück war das Equilibrium. Es bedeutete die Anerkennung eines Rechtes auf Selbstbestimmung und die Übereinkunft über eine eigene kulturelle Souveränität. Angesichts der erneuten Verheerungen kann gesagt werden, dass dieses Diktum des Westfälischen Friedens zu den Sternstunden gehört, die dieser Kontinent erlebt hat.

Die Lehren aus dem II. Weltkrieg hingegen, die zunächst eine Renaissance des Westfälischen Friedens beinhalteten, hielten nur wenige Jahre. Der Kalte Krieg war die Wiedergeburt der systemischen Rivalität. Der Zerfall der Sowjetunion und das danach einsetzende Wachstum der Europäischen Union ging über die Etappe wirtschaftlicher Kooperation schnell über in militärische Verpflichtungen. EU und NATO agierten sehr schnell im Gleichschritt. Politisch blieb das Bündnis karg. Eine gemeinsame Idee, ein Spirit, der die verschiedenen Völker Sinn stiftend hätte verbinden können, wich der Genese eines bürokratischen Monsters, das sich zunehmend anmaßte, wirtschaftliche Bedingungen anzugleichen, ohne politische Partizipation zu ermöglichen. Die blieb auf der Strecke. Mochten sie die Pioniere in der Stunde Null vielleicht noch im Sinn gehabt haben, die Epigonen haben diese Idee schlichtweg vergessen. Sie sind dem Fetisch der Ökonomie erlegen. Letztere händigt bekanntlich die Macht denen aus, die am meisten prosperieren.

Das Europa, von dem heute die Rede ist, ist ein Bruchteil des Kontinents, das ebenso viele Nationen ausschließt wie es sie einschließt. Und diejenigen, die heute reklamieren, sie sprächen für Europa, haben kein Mandat, dieses zu tun. Ihr an die Psychose reichender Reduktionismus ist ein Artefakt, das sich auf Macht und Bevormundung beschränkt und nicht durch den freien Willen der Völker dieses Kontinents legitimiert ist. Und so sehr sie auch von Europa sprechen, sie meinen etwas vollkommen anderes. Sie meinen das wirtschaftliche und militärische System, in dem sie sozialisiert wurden. Nicht mehr. Was wir momentan erleben, das ist ein Prozess der Erkenntnis. Europa ist etwas anderes als das Dogma von Apologeten, die mit ihrem Separatismus gescheitert sind.

Das Gesetz des Gleichgewichts

Henry Kissinger. World Order

Nun ist er über Neunzig und umstritten wie eh und je. Und ja, sein Leben hat einiges zutage gebracht, er war einerseits ein genialer Stratege, andererseits ein eiskalter Machtpolitiker, einerseits Historiker und andererseits heißblütiger Parteigänger. Henry Kissinger, der mittelfränkische Jude, den die Verfolgung in die USA trieb, wo er es bis ins Zentrum der Macht brachte, hat dank seiner Wissenschaftskarriere auch die Fähigkeit, die Schätze an Geheimwissen wie der analytischen Schärfe ab und zu in ein Buch zu bringen. Gerade das vor nicht allzu langer Zeit erschienene Werk mit dem knappen Titel China war alles andere als die Memoiren eines alternden Politikers, sondern die Erkenntnisse eines Zeitgenossen, der aufgrund seiner exponierten Stellung mehr weiß als andere. Mit World Order ist jetzt ein neues Buch auf dem Markt, dass endlich das Thema zum Fokus hat, für das Kissinger in der Wahrnehmung der meisten Zeitgenossen steht: Diplomatie. Und um es vorweg zu sagen. Wer sich aufgrund des Autorennamens davon abschrecken lässt, es zu lesen, dem werden bestimmte Einsichten verwehrt bleiben.

In den ersten beiden Kapiteln von World Order beschäftigt sich Kissinger mit der Genese der modernen Diplomatie. Deren Geburtsstunde sieht er in den Verträgen zum Westfälischen Frieden aus dem Jahre 1648, welcher in Münster geschlossen wurde. Einmal abgesehen, dass auch in Osnabrück verhandelt wurde, dass keine Synchronisation der Positionen der einzelnen Parteien an den verschiedenen Orten vorgenommen werden konnte und keine Rückversicherungen den jeweiligen Verhandlungsführern gegeben werden konnten, was alles aus der Perspektive des digitalen Zeitalters sehr befremdlich erscheint, ist das Wesen des Vertrages die Grundlage der modernen Diplomatie. Nach dreißig Jahren des Zerrüttungskrieges sicherten sich die unterschiedlichen Parteien zu, dass ein Gleichgewicht der Macht entstünde, das unbesehen der einzelnen religiösen oder kulturellen Ausrichtung des jeweiligen Staates seine Grenzen, Souveränität und Autonomie respektiert werden müssten. Der Begriff, der für dieses Gleichgewicht der Kräfte steht, ist das Equilibrium.

Laut Kissinger basiert nicht nur die moderne bürgerliche Demokratie auf diesem Gedanken des Equilibriums. Kissinger geht noch weiter und schreibt dem Geist des Westfälischen Friedens den Charakter einer friedensstiftenden Außenpolitik generell zu und verweist darauf, dass bis hin zur Konstituierung der Vereinten Nationen dieses Gedankengut das Fundamentale war. Und immer, wenn durch die Einführung von Religion, Ideologie oder Moral aufgrund der eigenen Überhebung die Vorstellung eines Equilibriums geleugnet wurde, geriet das gesamte Projekt der Verständigung nicht nur in Gefahr, sondern mündete in einem Krieg. Dass bei diesem Prozess der Negation der bürgerlichen Vorstellung der Kommunikation ausgerechnet das revolutionäre Frankreich die Ursünde beging, wird nicht weiter vertieft, sondern nüchtern zur Kenntnis genommen.

Interessant sind vor allem die auf dieser Argumentation aufbauenden Analysen des Nah-Ost-Konfliktes und des ihr in vielen Fällen zugrunde liegenden Islam, der in seiner missionarischen Vision da Equilibrium tendenziell ausschließt. Und auch die USA, als Weltmacht aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen, hatten aufgrund ihres tiefen Glaubens an eine systemische Suprematie dazu beigetragen, eine auf Gleichheitsgrundsätzen beruhende Weltordnung dahin gehend obsolet zu machen, als dass sich die Prinzipien von Freiheit, Demokratie und Wohlstand nur durchzusetzen brauchten. Divergierende Perspektiven wie digitale Gleichzeitigkeit haben es so sehr schwierig gemacht, nach einer Verortung zu suchen, die alle als Ausgangspunkt einer neuen globalen Ordnung akzeptierten. Auch dort würde Kissinger das Equilibrium favorisieren. Jede Tagesnachricht aus der internationalen Politik dokumentiert, wie aktuell dieses Buch ist.

Ist das Prinzip des westfälischen Friedens passé?

Dreißig Jahre hatte das Gemetzel angedauert. Von Nord nach Süd, von Ost nach West hatten Horden den Kontinent überzogen, gebrandstiftet und geplündert. Aufgrund des damaligen Umgangs mit Zahlen kann man die Schäden kaum beziffern. Unbeschreibliches Leid hatte der europäische Kontinent erfahren, angefangen hatte alles wegen der Finanzierung eines Tempels in Rom und dann gab es kein Halten mehr. Die Welt, die für Europäer damals nur aus Europa bestand, war aus den Fugen geraten. Es ging, wie immer in der Geschichte, um Macht, Geld und Einfluss. Ausgetragen wurde das Ganze allerdings auf der Folie des Glaubens. Katholische Kirche oder Protestantismus. Unter dieser Fragestellung war vieles subsumierbar. Dass die beiden Glaubensvorstellungen allerdings auch für ein anderes Konzept der Nationenbildung und des Umgangs miteinander standen, spielte auf der Straße, beim Gemetzel, keine Rolle. Nachdem zwischen 1618 und 1648 unzählige Seelen ganz irdisch verbrannt worden waren und ein Kontinent im Dauerkriegszustand vor dem Kollaps stand, trafen sich die Protagonisten in einem Saal zu Münster und beschlossen etwas, das den Namen des westfälischen Friedens tragen sollte.

Ohne es zu wissen schrieben die Handlungsbevollmächtigten der Kriegführenden Parteien ein Prinzip fest, das weder den Westen noch den Rest der Welt jemals wieder loslassen sollte: Das Equilibrium. Gemeint ist das Gleichgewicht derer, die miteinander verkehren oder verhandeln, unabhängig von ihrer jeweils eigenen Disposition hinsichtlich von Faktoren wie Größe, Macht, Religion und Eigenbild. Der westfälische Frieden sanktionierte das Gleichgewicht sehr unterschiedlicher Parteien in einer ungleich gewordenen Welt. Der westfälische Frieden legte das Fundament für die moderne Vorstellung von Diplomatie. Er beendete die Idee von der Beherrschung der Welt durch eine Macht, die alles dominiert und somit die Standards für das Leben aller setzt. 30 Kriegsjahre mit ungeheurem Leid und entsetzlicher Zerstörung auf allen Seiten waren nötig gewesen, um allen diese Vorstellung als Lösungsmodell zugänglich zu machen.

Ohne es explizit zu wissen, haben sich die europäischen Staaten diese Vorstellung in den meisten Fällen zu eigen gemacht und bis hin zur Philosophie und den Grundsätzen der Vereinten Nationen lebt das Diktum des westfälischen Friedens fort. Equilibrium, das Trachten nach Gleichgewicht bei Akzeptanz der Unterschiede und Eigenheiten. Das war seit 1648 nicht immer so, aber immer wenn der Pfad des westfälischen Friedens verlassen wurde, wie im I. und II. Weltkrieg, wie bei den vielen „lokalen“ Kriegen, dann endete das Ganze im Desaster. Und immer, wenn in besonders schwierigen Situationen an den Prinzipien des westfälischen Friedens festgehalten wurde, wie z.B. bei der neuen deutschen Ostpolitik, dann konnten Erfolge erzielt werden, die vorher nicht für möglich gehalten worden waren.

Seit der Haltung der deutschen Außenpolitik Ende der Neunziger Jahre im Balkankonflikt und seit der aggressiven Interpretation des EU-Auftrages auf dem Kontinent im Falle der Ukraine ist eine radikale Abweichung von dem Paradigma des Equilibriums festzustellen. Das muss nicht apodiktisch so sein, ist aber ein gewichtiger Grund zur Beunruhigung. Zumal die Akteure, die im Auftrag vermeintlicher europäischer Interessen durch Ignoranz und Großmannssucht auf dem fragilen Gebilde des europäischen Kontinents herumtrampeln, nicht den Eindruck erwecken, als hätten sie eine Vorstellung von den möglichen Verheerungen, die ihre absurden Aktionen auszulösen in der Lage sind. Kleinbürgerlicher Moralismus, wie ihn der verdauungsphilosophische Mittelstand propagiert, war in Deutschland immer eine Garantie für temporäre Untergänge, die Abweichung von den Prinzipien des westfälischen Friedens birgt jedoch nahezu die Garantie für ein böses Erwachen.