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Das Haus Europa

Für einige taucht sie erst jetzt auf. Die Kontur des so genannten Hauses Europa. Der Gedanke, dass sich ein Staatengebilde entwickeln könne aufgrund exklusiv gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen, hat sich als großer Fehler erwiesen. Allein die Hypothese von den gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen war bereits eine ideologisch verpackte Illusion. Denn gewonnen haben die Staaten, die aus einer fokussierten Exportwirtschaft kamen. Die anderen haben der Überflutung ihrer lokalen Märkte mit Gütern aus den Exportländern zugestimmt, da die Öffnung an Transferzahlungen gekoppelt war, die es ermöglichten, Infrastrukturmaßnahmen im großen Stil durchzuführen und somit zu Wählerstimmen führten. Dass diese Infrastrukturmaßnahmen auf Kredit waren und wenn diese bezahlt werden mussten eine Attacke auf die staatlichen Institutionen folgen sollten, haben bis jetzt einige dieser Staaten gespürt. Bei anderen wird das noch kommen.

Was bei vielen allerdings schon gekommen ist, ist die Erkenntnis darüber, wie das System funktioniert. Zweck ist die wirtschaftliche Prosperität der Starken und die Erpressbarkeit der Schwachen. Und Zweck ist die geographische Marginalisierung der Folgen der expansiven Politik. Der beste Terminus für diese Strategie ist das Dublin-Abkommen. Dort steht geschrieben, dass Flüchtlinge dort bleiben sollen, wo sie zum ersten Mal registriert werden. Und das ist bis auf wenige Ausnahmen an den Außengrenzen Europas. Mit dem Westwärts-Track aus dem Nahen Osten und vom Balkan wurden die südeuropäischen Partnerstaaten überfordert. Und jetzt bilden sich Bündnisse, die nichts mit der gepimpten Vision Europas gemein haben, sondern sich an alten Allianzen orientieren.

Es ist einmal wieder ohne Konsequenz und Courage, wenn in diesen Tagen Ungarn und sein Präsident kritisiert werden. Das verhilft sicherlich zu einem guten Gefühl, aber es lenkt von der Frage ab, wie lange das schon so geht. In Ungarn walten Kräfte, mit denen der Mainstream in Mitteleuropa nicht so viel zu tun haben will, die aber wahrgenommen werden müssen und an deren Entstehung das westliche Bündnis nicht so unschuldig ist. Die Architektur der Wirtschaft osteuropäischer Staaten basiert auf den von Weltbank, IMF und EU gesetzten Fundamenten wie Privatisierung, Deregulierung und der Allokation von internationalem Kapital. Die Konsequenz ist ein qualitativer Schwund vor allem bei Gesundheit, Bildung, und sozialer Fürsorge. Die teilweise beeindruckenden Wachstumszahlen in diesen Ökonomien werden flankiert vom Abhängen großer Bevölkerungsteile von der Entwicklung. Ob in Budapest oder Warschau: In den Städten entsteht als Spiegelbild zu den Superreichen ein neues Lumpenproletariat und auf dem Land herrscht zum Teil die nackte Armut. Da ist der politische Klassiker eines Sündenbocks nicht fern. Und wer eignete sich da nicht besser, als die schwachen Randgruppen oder die großen Unbekannten vor den Toren?

Nun blicken die Sprechmaschinen aus Brüssel mit Panikpupillen in die laufenden Kameras und reden über einen Schwund an Solidarität im Haus Europa. Das entbehrt nicht der Ironie, denn die mangelnde Solidarität im Haus Europa haben Portugal und Spanien bereits genauso gespürt wie danach Griechenland. Ist es da verwunderlich, dass genau diese Staaten wie die vom Make-up des Wirtschaftsliberalismus entstellten im Osten jetzt einmal beobachten, wie der Geldsack und das große Portemonnaie Europas mit einer überschaubaren Menge von Flüchtlingen umgeht? Es entspricht genau der Tradition der Verfälschung und Mystifikation ausgerechnet jetzt von Solidarität zu reden. Das Personal in Brüssel, das noch vor kurzer Zeit von faulen Griechen und unberechenbaren Typen geredet hat, appelliert jetzt an europäische Tischsitten. Und, das eher ein Hinweis an die Regie, es ist zum Lachen. Das sollte nicht vergessen werden. Denn wer sich lächerlich macht, hat den Applaus verdient!

Die gute Fee

Ein erwachsener, weinender Mann, ruft „Ich will zu meiner Mutter“, und dann hält er ein Bild von Angela Merkel hoch und schluchzt laut auf. Es handelt sich um einen Syrer, der der Hölle im eigenen Land entkommen ist, der dort Teile seiner Familie verloren hat und nun eine Odyssee durch verschiedene europäische Länder hinter sich hat. Die Bilder, die sich über die Smartphones in Windeseile verbreiten, sind für viele Menschen, die sein Schicksal teilen, schlicht unglaublich. Ein syrisches Kind auf dem Münchner Hauptbahnhof, das mit der Mütze eines Polizisten herumläuft, und dieser lacht beschwichtigend, als ein entsetzter Vater entschuldigend eingreifen will. Deutschland entpuppt sich momentan als das Land der Erlösung und seine Kanzlerin als die gute Fee.

Die Ursachen für diese Wirkung sind relativ einfach zu erklären. Während die europäischen Staaten unabhängig von der Dringlichkeit, sofort zu reagieren, einen Prinzipienstreit führen über Ursache, Wirkung und vor allem die daraus resultierende Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen, sind es lediglich Österreich, die Bundesrepublik und Schweden, die sich in größerem Ausmaß in der Verantwortung sehen. Die britischen Verteidigungsarbeiten am Tunnel von Calais werfen hingegen genau das Licht auf Großbritannien, in dem es bereits seit langer Zeit scheint, nämlich wenig sympathisch für das gemeine Volk schlechthin und nahezu willenlos gegenüber der spekulativen Finanz. Die osteuropäischen Staaten, allen voran Ungarn und dicht gefolgt von Polen, dokumentieren hingegen sehr anschaulich, dass die ökonomische Mitgliedschaft in dem ramponierten Gebilde Europa die politische Reife längst nicht kompensiert, es sei denn, aus geostrategischer Sicht passen die Akteure wieder in das Puzzle.

Und so sind die armen Seelen, die momentan ausgelaugt und traumatisiert die Grenzen Deutschlands erreichen, in einem Zustand der Dankbarkeit und Freude, die ihnen zusteht und die verstärkt wird durch die Initiative der Bevölkerung, die, und das müssen manche erst noch verkraften, zu den heutigen Syrern freundlicher sind als es ihre Vorgänger nach dem großen Krieg gegenüber Ostpreußen, Sudeten oder Schlesiern waren, so genannten Volksdeutschen, obwohl sie vorm bösen Russen flohen. Die Freude erklärt vieles nicht und verdeckt den kritischen Blick vor einem Europa bzw. einer EU, denn, das sei noch einmal bemerkt, EU und Europa sind lange nicht identisch. Die EU und ihr zeitweiliges Junktim mit der NATO hat zu den wirtschaftlichen Ungleichheiten im Bündnis, von denen vor allem die deutschen Konzerne in den letzten Jahrzehnten vornehmlich profitiert haben, zudem eine politische Konstellation geschaffen, die an Abenteuerlichkeit nicht zu überbieten ist.

Genau diejenigen, auch im offiziellen Brüssel, die vor allem dem gegenwärtigen ungarischen Präsidenten Viktor Orban Giftpfeile entgegen schleudern, sollten sich ins Gedächtnis rufen, dass sie es waren, die Staaten in die EU geholt haben, in denen immer noch oder schon wieder ein Geist der Menschenverachtung, des Antisemitismus, des Rassismus und der Reconquista herrscht, der dazu führt, dass die eigenen Bürgerinnen und Bürger bald auf der Flucht sind. Der ungarische Zaun ist nicht nur gegen Flüchtlinge aus anderen Ländern, sondern auch als Zaun vor Ausbruch der eigenen Bevölkerung gedacht.

Der Ukas der Kanzlerin zur Verfügung der Aufnahme syrischer Flüchtlinge ist kalkulatorisch, das eigene Image betreffend, ein großer Coup. Er lenkt ab von dem desolaten Zustand der EU und der Mitverantwortung Deutschlands am jetzigen Zustand der EU. Martin Schulz, der Heckenphilosoph vom Niederrhein, versucht nun, aus dem Elend eine Tugend zu machen. An Ungarn, so der hemmungslose Mann, sähe man, wohin es führe, wenn man die EU entmachten und den Nationalstaaten wieder mehr Souveränität gäbe. Wir sollten das Lachen nicht verlernen!

Exterritoriale Revue 0

Jeremy Corbyn, ein bis dato eher unauffälliger Politiker bei British Labour, spaltet die Partei aufs heftigste. Den einen gilt er als Hoffnungsträger, den anderen als die Inkarnation längst überlebter Zeiten. Corbyn selbst vertritt tatsächlich eher klassische Positionen der Arbeiterbewegung: Stärkung nationaler Industrien, eine konservative Energiepolitik, stärkere Besteuerung der Reichen und bessere Löhne für die Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie. Der Zuspruch innerhalb Labours ist immens. Tony Blair, Her Majesty of New Labour, hingegen ist entsetzt und giftet böse. Der Versuch, GB zurück in eine Zeit zu versetzen, in der nicht Londons Financial District die Politik des Landes bestimmt, erhitzt gewaltig die Gemüter.

Im Monat August noch wurde der Opfer von Hiroshima und Nagasaki gedacht. Immer noch sitzt das Leid tief und ist die Trauer groß über die abscheulichste Attacke auf ein zivilisatorisches Ballungsgebiet durch den Abwurf zweier amerikanischer Atomraketen im Jahr 1945. Quasi gleichzeitig hat die Partei des japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe dem Parlament einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Regierung autorisiert, im Bedarfsfall militärisch exterritorial einzugreifen. Bis dato ist das nicht möglich. Seit der Niederlage im II. Weltkrieg hat das Land eine konsequente und strikte Position der Landesverteidigung vertreten. Angesichts umstrittener Territorialansprüche mit Russland und China kann die Initiative der Regierung auch als Drohung verstanden werden. Massenproteste in Japan sind die Folge. Hunderttausende gingen in Tokio und anderswo auf die Straße.

Ungarn entpuppt sich als das Safe House für radikalstaatliche Ideen zur Sicherung tradierter Verhältnisse. Das EU-Mitglied profiliert sich durch die Regierung Orban nicht als das gemeinsame Haus Europas, von dem die Gründer der EU noch schwärmten. Zunächst wurden Sinti und Roma durch diskriminierende Gesetze weiterhin marginalisiert, dann sollten die nationalen Freimaurerverbände ihre Mitgliederlisten der Regierung übergeben, was diese nicht taten, und nun wird ein Zaun, eine Mauer gebaut, um Flüchtlinge von außen fern zu halten. Deutschland, selbst traumatisiert durch die Existenz einer Mauer über nahezu drei Jahrzehnte, schweigt.

Im Jemen tobt weiter der Krieg. Nach Berichten, die in unseren Sphären kursieren, geht es bei dem Kampf um die Dominanz zwischen Sunniten und Schiiten. Sieht man sich die Strongholds der beiden muslimischen Richtungen an, dann geht es vor allem um die Konkurrenz zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Die im Jemen operierenden Huthi-Rebellen sind Schiiten und werden daher konsequent von saudi-arabischen Streitkräften bombardiert. Der Konflikt innerhalb der islamischen Welt um Vorherrschaft wird im Westen selten thematisiert und analysiert. Die Reduktion des Konfliktes auf Israel und den Iran erklärt vieles andere nicht. Das Morgenland bleibt vielen westlichen Politikern ein Mysterium.

Der Zeitpunkt des offiziellen Abzugs deutscher Truppen aus Afghanistan rückt näher. Das Land wird sich auch danach, unabhängig von der weiteren Form westlicher Militärpräsenz, mit den alten, tradierten Interessen auseinanderzusetzen haben. Warlords und Nomaden dominieren ein wildes Land, in dem es immer um Mohn und Waffen ging. Imperiale Mächte gingen immer leer aus, weil eine militärische Überlegenheit am Boden nie gewährleistet werden konnte. Der Interessenkonflikt um den Heroin-Rohstoff wird bleiben, der über den Zugriff auf im Land vorhandene seltene Erden ist hinzugekommen. Vieles spricht dafür, dass auch die Zukunft des Landes unruhig und gewaltsam sein wird. Und vieles spricht dafür, dass die finanziellen und militärischen Mittel, zu denen im Westen gegriffen wird, um im Spiel zu bleiben, bald nicht mehr mit dem Recht der Mädchen auf Schulbesuch erklärt werden können.