Es ist kein guter Rat, in schwierigen Zeiten auf andere zu zeigen, um die eigene Malaise zu relativieren. Manchmal ist es aber auch erforderlich. Denn wenn es sich um Erscheinungen handelt, die zwar nicht nur im eigenen, aber auch in anderen, analogen Feldern vorkommen, sollte man zu einer distanzierteren wie grundsätzlichen Betrachtung fortschreiten. Wovon die Rede ist? Von einer Tendenz in allen sich konstitutionell demokratisch nennenden Staaten, die sich immer mehr vom eigenen Idealbild entfernen. Zum einen ist die Partizipation durch aktive Wahlen im Sinkflug begriffen, zum anderen sind die Regierungen, egal welcher traditionell politischen Couleur, auf dem Weg zu einem immer autoritäreren Staatsverständnis. Letzteres geht einher mit größerem Stimmenzuwachs für tatsächlich autoritäre Bewerber. Zudem ist der gegenwärtige Zustand in vielen Ländern nicht mehr förderlich für eindeutige und programmatisch logische Regierungsformationen. In manchen Fällen, wie in Belgien und den Niederlanden, ist man gerade dabei, sich auf Regierungsbildungsphasen einzustellen, die ein Jahr und mehr dauern. Allein dadurch von Regierungsunfähigkeit und Staatskrisen zu sprechen, wäre vielleicht etwas voreilig. Angesichts des gesamten Paketes und der nahezu flächendeckenden Erscheinung eine Systemkrise zu diagnostizieren, ist allerdings auch nicht übertrieben.
Und, um nicht gleich wieder dem Vorwurf zu erliegen, das sei alles eine polemische Volte, sei im Staccato daran erinnert:
- In den einst als Hochburgen der liberalen Demokratie gehandelten skandinavischen Ländern haben sich Liberalität wie Sozialdemokratie zugunsten dessen verabschiedet, was die hiesigen Berichterstatter so gerne Rechtspopulismus nennen.
- In den benachbarten und auch immer zu den Filetstücken demokratischer Liberalität gerechneten Niederlanden haben in den gestrigen Neuwahlen (!) ebenfalls Parteien mit autoritäreren Zügen die Oberhand gewonnen und die Präsenz von 17 Parlamentsparteien für einen Marathon der Regierungsbildung spricht.
- In Polen, Ungarn sind wiederum andere Tendenzen zu beobachten, die sich der Definition von in Brüssel formulierter Rechtsstaatlichkeit vehement widersetzen.
- In Italien regieren mittlerweile sich selbst etikettierende Neofaschisten und in Spanien hat eine Verzweiflungstat der Sozialisten eine Machtübernahme der Konservativen gerade noch verhindert.
- In Frankreich wurde mit Macron und seinem Bündnis das gesamte traditionelle Parteiensystem ausgehebelt und
- in den USA, für viele die Blaupause einer liberalen Demokratie, steht ein erneuter Titanenkampf bevor, bei dem der juristisch verfolgte Kandidat Trump momentan Boden gut macht.
- Von Argentinien, wo ein Kandidat die Wahlen gewinnen konnte, der offen für die Einführung des US-Dollars plädierte und der zu seinem Symbol eine Kettensäge machte, soll an dieser Stelle noch keine Rede sein.
Die nicht komplette, bewusst auf Deutschland verzichtende, aber doch markante Aufzählung macht mehreres deutlich.
Zum einen kann festgestellt werden, dass Deutschland mit seiner von vielen so betitelten Staatskrise nicht allein steht. Der Blick zu Nachbarn, wo alles noch vorzüglich funktioniert, ist nicht gegeben. So, wie es scheint, befinden sich die Länder, die sich als demokratisch bezeichnen und globalpolitisch den Westen ausmachen in einer mehrdimensionalen Krise. In diesen Ländern ist nahezu flächendeckend ein soziales Auseinanderdriften zu registrieren, das eine Identitätskrise mit sich bringt. Die soziale Zerfaserung der Gesellschaften und die mittlerweile lang andauernde Demontage von Bildung, Infrastruktur und die Gemeinschaft verbindenden Dienstleistungen fordert nun ihren Tribut. Zudem hat die Positionierung nach außen, die auf alten, kolonialen wie imperialistischen Gepflogenheiten und Vorstellungen beruht, zu eine Isolation geführt, die sich zunehmend auch wirtschaftlich bemerkbar macht. Und die Krisen und Kriege, die voluntaristisch entfacht wurden, führen nun quasi als ungewollte Rendite eine Migrationswelle nach der anderen mit sich, die durch diese Politik selbst verursacht wird und die das Gemeinwesen in vielen Fällen vor Ort überfordert.
Die Figuren, die die Geschäfte führen, egal in welchem Land, sind diejenigen, die zu diesem Verständnis von Politik passen. Von ihnen den notwendigen, gravierenden Kurswechsel zu verlangen, ist eine Illusion. Und in den Ländern, in denen traditionell eine politische Innovation unter einem günstigen Stern steht, beginnt es zu rumoren. Konturen sind allerdings noch nicht zu sehen. Und in anderen Ländern dominieren Propaganda, Klage und Lamento. Verorten Sie sich selbst!
