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Kein Weg aus dem Dilemma?

Fast täglich ist zu erleben, dass die Länge von Diskussionen dazu herhalten muss, um die ungeheure Leistung hervorzuheben, die sich hinter dem erzielten Ergebnis verbirgt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Hervorheben der stundenlangen, intensiven Beratungen immer dann besonders stark akzentuiert wird, wenn das Ergebnis dürftig ist. Diejenigen, die sich dieser Argumentation bedienen, sind sich anscheinend nicht darüber im Klaren, dass sie damit nicht punkten können. Wer redet und redet, so die allgemeine Auffassung, und keine attraktiven Ergebnisse erzielt, der leistet nichts Besonderes.

Das Missverständnis, das sich dahinter verbirgt, ist in den Referenzsystemen der verschiedenen Lebenswelten zu suchen. Wer sich in einem Arbeitsverhältnis befindet, in dem Aufwand und Ergebnis in ständiger, immer wieder überprüfter und optimierter Beziehung stehen, der hat einen daraus abgeleiteten Begriff von Leistung. Wer seinerseits in der Welt der Verhandlung und Entscheidungsfindung agiert, sollte ein analoges Bezugsfeld haben. Auch dort stellt sich die Frage, wie lange muss verhandelt werden, um etwas Gutes zu erzielen.

Wenn nun diese durchaus gemeinsame Dimension von Leistung verlassen wird, dann ist das System, welches dieses tut, in der Krise. Die Verhandlungslänge politischer Themen, bei denen nichts Zählbares herauskommt, hat dramatisch zugenommen. Es auf diejenigen zu reduzieren, die diese Verhandlungen führen müssen, ist jedoch zu kurz gegriffen. Dennoch müssen sich die Dauerverhandler fragen, was sie bewegt, Ressourcen auf Wege zu verschleudern, die zu keinem attraktiven Ziel mehr führen. Wenn ein nicht effektives System eine Eigendynamik entwickelt, von der nur noch die Systemmitglieder existenziell profitieren, dann ist der Zweck aus dem Blick geraten.

Und selbstverständlich müssen diejenigen, die die Verhandlungen führen, nach dem Zweck ihrer Existenz fragen, um weiterhin aus dem großen Areal heraus Zustimmung zu erlangen. Aber das große Areal, sprich die Gesellschaft, die nur die Länge ergebnisloser Gespräche moniert, ohne den von ihr erwarteten Zweck zu benennen, ist ebenso in einer Krise.

In diesen Tagen wird sehr viel vom Mut gesprochen, der erforderlich ist, um die Verhältnisse, die nicht befriedigen, verändern zu können. Es handelt sich jedoch um eine Binsenweisheit, dass die Rede vom Mut nicht den Mut selbst ersetzt. Manchen reicht aber bereits der Appell. Und darin liegt das Problem.

Die Erkenntnis, dass etwas nicht mehr so weitergehen kann wie bisher, ist die Voraussetzung für Veränderungen. Es dabei zu belassen, hat in Zeiten, in denen sich die Welt immer schneller dreht, etwas Suizidales. Da wird in unzähligen Debatten und Talkrunden davon geredet, was erforderlich wäre, um diesem oder jenem Missverhältnis zu begegnen, aber es tut sich nichts. Ganz im Gegenteil. Die gesellschaftliche und politische Paralyse wird kultiviert und die soziale Lethargie wird zum alles beherrschenden Paradigma.

Da verwundert es nicht, dass sich immer mehr Menschen von den Regisseuren des Stillstandes abwenden und zum Teil Alternativen präferieren, die keine sind. Überdruss, so lernen wir in diesen Tagen, ist auch ein schlechter Ratgeber. Aber Überdruss ist ein Zeichen, das alarmieren muss.

Die Welt kritisch zu reflektieren, ohne seinen eigenen Beitrag zu ihrem Zustand in Betracht zu ziehen, ist vielleicht die fatalste Erscheinung des Zeitgeistes. Festzustehen scheint nur eines: Ohne Selbstkritik führt kein Weg aus dem Dilemma.

Systemische Eigendynamik und das leere Versprechen der Weltendeutung

Das Phänomen der Eigendynamik dokumentiert in der Regel einen sehr bestimmbaren Zustand eines Systems. Unter Eigendynamik sind Aktionen, Maßnahmen und Prozesse zu verstehen, die ihrerseits abgekoppelt sind von der Zweckbestimmung der Organisation. In der Systemtheorie hat Eigendynamik etwas zu tun mit den Symptomen, die für den Selbsterhaltungstrieb des Systems selbst stehen und auch auf die Gefahr der Verfehlung des Zwecks sich immer wieder durchsetzen. Und immer dann, wenn die Anteile der Eigendynamik besonders hoch sind, muss dem System selbst attestiert werden, dass die Transparenz und Durchsetzung des Programms, des Nutzens, des Zwecks sehr schwach ausgebildet bzw. gewährleistet sind.

Bei jedem Veränderungsprozess kann das Phänomen der Eigendynamik beobachtet werden. Und jedem System kann attestiert werden, in welchem Zustand es sich befindet. Ist der Anteil der Eigendynamik hoch, so befindet sich das System im Zustand programmatischer Schwäche. Ist der Anteil der Eigendynamik exorbitant hoch, ist es wahrscheinlich, dass die Programmatik insgesamt verloren gegangen ist. Ein System, das nur noch aus  eigendynamischen Konstrukten oder Prozessen besteht, verliert zunehmend die Legitimation durch den Zweck: Bei allen Betrachtern von außen und nach und nach auch bei den Beteiligten selbst. Und schon drängt sich das Paradoxon auf, dass Eigendynamik der reine Ausdruck einer eigenen, intrinsischen Systemrationalität ist, zum anderen ein zu hoher Anteil von Eigendynamik die Existenz des Systems wiederum aufs Spiel setzt.

Was in jeder Organisation zu beobachten ist, trifft auch auf das übergeordnete System der Gesellschaft zu. Auch in Gesellschaften und deren Organisation, dem Staat, sind Tendenzen von Eigendynamik zu verzeichnen und auch dort ist es zuweilen schwierig, den Zweck des jeweiligen Systems zu identifizieren. Bei der Gesellschaft im Allgemeinen ist aktuell ein Zustand zu bezeugen, der gekennzeichnet ist auf den Verzicht, die Zweckbestimmung überhaupt erkennen zu wollen. Ein Diskurs darüber, wohin die Gesellschaft will oder soll ist von vielen Teilen derselben nicht gewollt oder gekonnt. Stattdessen werden die Medien der Verständigung über die Intention oder den Zweck, die Kommunikation, die Verhandlung, die Interaktion zum Selbstzweck erhoben. Die Verabsolutierung der Medien bei Ausblendung der Strategie kann als das systemische Symptom unserer Tage an sich bezeichnet werden.

In diesem Kontext ist es sehr interessant, sich das immer wieder vorgebrachte Argument der Komplexität genauer anzusehen. Selbstverständlich sind Systeme, die über unzählige Subsysteme und Interdependenzen verfügen, sehr komplex. Sie sind sogar so komplex, dass jeder Versuch, darüber eine endgültige Transparenz herzustellen, als Anmaßung angesehen werden muss. Das Wesen von ständig vermittelter Komplexität besteht allerdings vor allem darin, den einzelnen Interakteuren ihre Machtlosigkeit zu vermitteln. Das ist in hohem Maße repressiv und der einzige, schnell zu identifizierende Zweck dieses Arguments. Zumeist wird es noch begleitet von dem Hinweis, das Handeln denen zu überlassen, die diese Komplexität begreifen. Was, niemanden wird es wundern, die Vertreter der systemischen Eigendynamik sind.

Die einzige Garantie für die Möglichkeit der Orientierung in komplexen Systemen ist die Frage nach der Zweckbestimmung und der Freilegung der Interessen der verschiedenen Teilsysteme. Das ist so schwer nicht, aber es ist natürlich unangenehm für jene, die sich mit sehr viel Metakommunikation ständig über die Komplexität der Welt auslassen. Ihr Interesse deckt sich nicht mit dem Bedürfnis der Mehrheit, und selbst das System ist ihnen egal, wenn es sie nicht mehr bedient.