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Den medialen Konkurs zum Thema machen

Und wieder wird die Aufmerksamkeit auf den einen oder anderen Vorfall gerichtet. Es wird mit Inbrunst über das eine oder andere Detail gestritten, während die großen Linien der Entwicklung in den meisten Debatten außen vor bleiben. Genau das ist das Kalkül derer, die immer wieder Anlässe finden, die dazu geeignet sind, so richtig auf den Tisch zu hauen, um zu verdeutlichen, welche Position die richtige ist. Einen Kurswechsel in der Politik haben diese symbolischen Auseinandersetzungen nicht zur Folge. Nach wie vor treibt ein ungehemmter Kapitalismus seine Blüten, nach wie vor töten imperialistische Kriege Millionen von Menschen und vergiften das Klima. Allein diese beiden Faktoren sind und wären es wert, den ganzen Zirkus zu beenden, in dem es um falsche Anreden, unbedachte Wortwahl, kolorierte Armbinden, vermeintliche Entdeckungen aus dem Privatleben des einen oder anderen Prominenten geht.

Zu den skandalisierten Petitessen aus den Nichtigkeiten einer zunehmend trägen Konsumgesellschaft kommt dann noch das andere Instrument, nämlich das des Feindbildes. Alles, was den Konsumenten nicht angelastet werden kann, wird zur exklusiven Tat äußerer Feinde. Das eigene Streben nach Expansion bekommt der große Nachbar im Osten angelastet, der eigene, zunehmende wirtschaftliche Misserfolg ist selbstverständlich das Werk der gar nicht mehr so fernen Chinesen. Russen wie Chinesen treiben es überall in der Welt und ihnen wird ein Drang nach Einfluss und Geltung attestiert, der den eigenen Ansprüchen entsetzlich schadet.

Das, was tatsächlich geschieht auf dieser Welt, ist nicht mehr Gegenstand der Berichterstattung. Wer die eigene Regierung reden hört, muss glauben, er läse eines der windigen Journale der hiesigen Qualitätsmedien, die von Ablenkung und Täuschung leben. Alle Welt weiß, dass es im Niger um Uran geht, das Frankreich bitter nötig braucht, um seine fünfzig Kernkraftwerke betreiben zu können. In der veröffentlichten Diktion geht es – natürlich – um die Demokratie, die durch russisches Treiben in Gefahr geraten ist. Die Spannung, als eines von vielen, noch nicht abgenutzten Beispielen, um die es wirklich geht, die Spannung in der Frage um die politischen Entwicklungen im Niger ist nur zu erklären, wenn man weiß, dass in Frankreich in drei Jahren die Lichter ausgehen werden, wenn der Niger nicht mehr liefert.

Die zu untersuchenden Felder, um die es gehen müsste, sind voll von Themen, über die in einer tatsächlichen Demokratie diskutiert werden müsste. Der Konnex von Sicherheitsdenken und geopolitischer Expansion im Falle der Ukraine, der Widerspruch zwischen Profitmaximierung durch globale Lieferketten und unnötigem Energieverbrauch, die Spaltung unserer Gesellschaften durch eine lang anhaltende Demontage des öffentlich finanzierten Gemeinwesens, der Widerspruch zwischen globalen Rüstungsinvestitionen (2,3 Billionen $, 2022) und weltweiten Aufwendungen für den Klimaschutz (70 Milliarden $, 2022), der Energieverbrauch pro Kopf in den westlichen Gesellschaften, verglichen mit dem Rest der Welt. Die List ist lang, und es wäre dringend notwendig, sich mit ihr zu befassen, anstatt sich über die Allüren von irgendwelchen Medienclowns zu echauffieren.

Ein Freund, der als Deutscher seit mehr als dreißig Jahren in Asien lebt und sich natürlich immer wieder bei Reisenden aus Deutschland über alles mögliche informiert, schrieb mir kürzlich, er sei jedesmal schockiert darüber, wie schlecht seine Landsleute informiert seien. Das sei einmal ganz anders gewesen und der Informationsgrad, über den heute viele Deutsche, die er träfe, verfügten, sei regelrecht peinlich. Ist nicht auch das ein Anreiz, den medialen Konkurs zum Thema zu machen? 

Das Quieken der Schweine

Die Vorahnung dramatischer Ereignisse äußert sich in unterschiedlicher Form. Bis heute zählt es zu den unerschlossenen Phänomenen, dass Säugetiere so etwas verspüren. Die Grundlagenforschung zeitigt immer wieder die Entdeckung bestimmter Details, die in Bezug auf das Nervensystem und den Stoffwechsel den Rückschluss zulassen, dass etwas in Vorbereitung ist, ohne dass es Anhaltspunkte im Ablauf der Ereignisse dafür gäbe. Dieses Mysterium führt nicht selten zu dem Schluss, Säugetiere seien mystische Wesen. Belegbar ist das nicht, es bleibt ein Punkt der Spekulation.

Neulich, bei einem Gespräch, erinnerte sich jemand an eine Beobachtung aus seiner Kindheit auf dem Land. Er berichtete, dass Schweine beim Abtransport zum Schlachthof in wildes Quieken ausbrachen, weil sie, so seine Vermutung, ahnten, wohin die Reise ging. Die Beobachtung ist kein Einzelfall. Jeder, der so etwas schon erlebt hat, kommt zu dem gleichen Schluss. Das Quieken der Schweine ist die Vorahnung des eigenen Todes, auch wenn ansonsten keinerlei Indizien wie der Geruch des Blutes, Geräusche bereits verendender Tiere oder sonst etwas zu vermerken wäre. Selbst fern des Schlachthofes ahnen sie, was auf sie zukommt.

Der geschätzte Mann, der dort in seiner Erinnerung kramte, ist nicht irgendwer. Er blickt nicht nur auf diese berichtete Beobachtung zurück, sondern er hat ein Leben voller Erfahrungen hinter sich, er war in der aktiven Politik und bekleidete hohe politische Ämter. Es handelt sich um einen gelassenen Mann, der viel gesehen und vieles begriffen hat. Er knüpfte in dem erwähnten Gespräch den Faden weiter und sprach davon, dass die ganze Atmosphäre, die sich in diesem Land ausgebreitet und alles durchdrungen hat, mit dem Quieken der Schweine aus seiner Kindheit etwas gemein hat. Er sprach von einer kollektiven Vorahnung, dass sich eine Katastrophe anbahne.

Er vermute, so weiter, dass tief im Innern mittlerweile die Befürchtung dieser Katastrophe einen breiten Platz eingenommen hätte und die laute Empörung, das Geschrei um relative Nichtigkeiten, die Überhitzung und die vollen Zorndepots etwas mit dieser Vorahnung als Grund zu tun hätte. Denn die Betrachtung der Realität gebe bereits eindeutige Hinweise, dass es tatsächlich zu einer großen Katastrophe käme. Trotz aller gegenteiliger Bekundungen hätten die Institutionen des Landes längst nicht mehr alles im Griff, um es gelinde auszudrücken, sie seien chronisch überfordert. Längst seien militärische  Konflikte vorprogrammiert, die nicht in weiter Ferne, sondern direkt vor der Haustür zum Ausbruch kommen müssten, längst sei deutlich, dass die wissenschaftlich-technische Vormachtstellung verspielt sei und woanders herrsche, längst seien die Fähigkeiten der Funktionsträger in Wirtschaft, Politik und Verwaltung den Anforderungen nicht mehr gewachsen und längst glaube niemand mehr an eine bessere Zukunft.

Nur eingestehen wolle das niemand. Man orientiere sich an Symbolen, die keine Wertigkeit für die eigene, reale Lebenswelt besäßen, man echauffiere sich über Ungerechtigkeiten wie Unzulänglichkeiten in fernen Ländern, ohne eine Analogie zu tatsächlichen Missständen im eigenen Lebensbereich herzustellen. Niemand sei mehr in der Lage, hier, im eigenen Land, aufzustehen und für Verbesserungen selber, mit eigenen persönlichen Konsequenzen, einzutreten, sondern man beschränke sich auf Verweise, die kein eigenes Zutun erforderten.

Doch tief im Innern ahne man, dass das nicht auf Dauer gutgehen könne. Seine Erinnerung an das Quieken der Schweine sei kein Zufall. Mir geht die Geschichte nicht mehr aus dem Kopf.

Für ein Lexikon der psychologischen Regierungs- und Meinungsführung

Tatsächlich leben wir in einer Zeit, in der Komplexität allgegenwärtig ist und folglich die Neigung, Komplexität herzustellen, vielen als eine Tugend gilt. Selbst bei den einfachsten Sachverhalten versuchen die gewieften Methodencracks unserer Tage, eine derartige Komplexität herzustellen, dass eine Entscheidung, wie mit dem Sachverhalt umzugehen ist, in weite Ferne rückt. Denn eines ist gewiß. Je komplexer eine Sache, desto schwieriger ist es, zu Entscheidungen zu kommen und damit umzugehen. Salopp ausgedrückt ist die Produktion von Komplexität zu einem Massensport geworden, an dem sich viele beteiligen, ohne die bitteren Konsequenzen vor Augen zu haben: Stillstand.

Neben den täglichen Routinen und Petitessen existieren selbstverständlich tatsächlich große Zusammenhänge, die komplex sind und in ihrem Gesamtbild kaum zu fassen sind. Naheliegend und wahrscheinlich auch beabsichtigt ist es, dass die Betrachtenden dann die berühmte Flinte ins Korn werfen und sich von dem unverdaulichen Gesamtbild abwenden. Eine Alternative kann darin bestehen, aus dem Großen Ganzen kleinere Partikel und Fragmente herauszulösen. Sie können gut beschrieben und analysiert werden und danach wieder in das Gesamtbild eingefügt werden. Je mehr von diesen kleinen Laborarbeiten erledigt sind, desto weniger Unbekannte hat das große Panorama an der Wand. 

Zu reden ist über das gegenwärtige System der Regierungs- und Meinungsführung. Es ist für viele unbefriedigend, aber nicht zu fassen. Sicher scheint mir zu sein, dass es sich um kein Intrigenstück weniger dunkler Intriganten handelt, sondern um ein sich über einen relativ langen Zeitraum peu a peu eingespieltes System, das teils aus Argumentationsmustern und teils aus Instrumenten besteht. Insgesamt wirkt dieses System desaströs, weil es die Welt, so wie sie ist, dem Urteil des kühlen Kopffes entzieht und ein verworrenes, emotional aufgeladenes Theater inszeniert, das von Gastspiel zu Gastspiel hastet und dem Publikum vor allem eines beschert: die größtmögliche Verwirrung. 

Zu dem argumentativen Arsenal gehören Floskeln wie Europahasser, Verschwörungstheoretiker, Putinversteher oder Klimaleugner. Sie sind gesetzt und etabliert und haben als Massenwirkung zur Folge, dass sich viele Menschen nicht mehr trauen, gegen eine imperiale, wirtschaftslibertäre Europapolitik, gegen eine militärische Ostexpansion oder für eine tatsächlich konsequente Klimapolitik, die sich nicht mit Alibigeplänkeln wie der E-Mobilität abspeisen lässt, aufzubegehren, weil die Konsequenz in allgemeiner Bezichtigung der Unzurechnungsfähigkeit endet. 

Ein anderes, blendend eingespieltes Instrument ist die Symbolpolitik, bei der es vornehmlich darum geht, etwas durchzuspielen, das nichts verändert, das lediglich symbolischen Charakter hat, aber die Emotionen genügend mobilisiert und alle in einem erschöpften Zustand ohne zählbares Ergebnis zurücklässt. Eskortiert wird das seit einiger Zeit von dem, was man gerne anderen vorwirft und das den – woher sollte es auch sonst kommen! – aus den Propagandaagenturen der Jetztzeit gestylten Namen des Derailing trägt. Für sich bereits eine Diskriminierung, weil er im Deutschen nichts anderes meint als eine Entgleisung, soll er dazu dienen, Zusammenhänge, sollten sie denn herzustellen sein, zu verhindern.  

Ein Beispiel für den Derailing-Vorwurf ist die Geschichte mit Trumps Telefonat mit dem neuen Präsidenten der Ukraine. Die amerikanischen Demokraten werfen ihm vor, seine innenpolitischen Interessen mit seinem Amt vermischt und auch noch ausgetragen zu haben. Deshalb die Initiative der Amtsenthebung. Konsequent ausgeblendet blieb bis heute der Anlass. Was haben Biden und sein Sohn in der Ukraine getrieben? Die Fakten machen klar, dass Joe Biden ebenfalls und noch stärker der Vorwurf zu machen ist, den die Demokraten gegen Trump erheben. Ein Verweis darauf gilt jedoch als Derailing, als Entgleisung.

Die Notwendigkeit eines Kompendiums, in dem die zeitgenössischen Killerphrasen und Verdunkelungsinstrumente beschrieben sind, ist an der Zeit. Nehmen Sie die angerissenen Gedanken als einen Vorschlag für eine Initiative zu einem Lexikon der psychologischen Regierungs- und Meinungsführung.