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Europas Süden: Nicht mehr artig zum Diktat!

„Bin müde und leer, will in Süden ans Meer, auf meinem Weg ohne Wiederkehr“, sangen die Menschen mit Fernweh zu einer Zeit, als noch nicht das Primat der Wirtschaftlichkeit den Blick völlig verdorben hatte. Da war die Welt noch in Ordnung. Hier, im Zentrum Europas, rannten die Menschen in großen Kohorten in die Fabriken und schufteten im Schichtbetrieb. Dafür verdienten sie mehr als alle anderen ihresgleichen auf dem Kontinent. Sie kauften sich davon unter anderem tolle Autos, mit denen sie dann in Urlaub fuhren. Natürlich in den Süden. Und natürlich ans Meer. Dort hielten sie abends die Tische frei, soffen den Rotwein wie Bier und kehrten mit wilden Geschichten ans Band zurück und erzählten ihren Kollegen, sie könnten sich gar nicht vorstellen, was „da unten“ alles nicht funktionierte und was für eine laue Mentalität dort herrschte. Ja, der deutsche Michel war wieder wer und es schien, als herrsche er zu Recht über die Welt. Als Meister. Bei der Arbeit wie beim Fußball. Dieses Bild herrschte über Jahrzehnte, bei vielen ist es immer noch im Kopf, obwohl sich vieles dramatisch verändert hat.

Die EU hat dafür gesorgt, dass der alte und „faule“ Süden des Kontinents in Sachen Markt und Infrastruktur eingegliedert ist, dass dort, wo es sich lohnt, produziert wird, weil es billiger als im Zentrum ist und dass ordentlich das gekauft wird, was die Unternehmen aus dem Zentrum produzieren. Notfalls wird die Kaufkraft mit locker vergebenen Krediten hergestellt, um sie danach in einer massiven Staatsverschuldung wieder zu treffen. Und wenn diese vorliegt, dann wird auf Privatisierung gepocht. Die Liquidität, um sich des Volksvermögens zu bemächtigen, liegt natürlich im Zentrum des Kontinents und so werden zentrale Funktionen wie See- und Flughäfen wie Edelimmobilien ganzer Nationen verhökert. 

Dass sich der alte Süden, der die Kultur des Kontinents kulturell wie spirituell prägte und in dem so manches heute wesentlich besser funktioniert als im selbst ernannte Musterländle, dass sich dieser alte Süden nicht mehr länger von den protestantischen Zuchtmeistern aus Berlin. Und Brüssel vorschreiben lassen wollen, welcher Politik sie folgen sollen, ist konsequent. In Griechenland und in Portugal haben sich die von der EU, dem IMF und der Weltbank verordneten Schrumpf- und Privatisierungskurse als Albtraum für das gesellschaftliche Zusammenleben erwiesen. Dass sich Länder wie Italien oder Spanien in eine ähnlich Sackgasse treiben lassen werden, wird immer wahrscheinlicher. Der Süden Europas setzt sich nicht mehr artig hin zum Diktat.

Von kritischen Medien könnte erwartet werden, dass sie sich mit der Ursache wie der Wirkung immer deutlicher zutage tretender Verwerfungen in der EU auseinandersetzten. Manche machen das auch und verweisen auf den Provizialismus wie den Dogmatismus der Schäuble-Merkel-Doktrin. Nur die TV-Nachrichtensendungen, denen böse Zungen nachsagen, sie hätten sich zu einer Pressestelle der Bundesregierung entwickelt, machen das nicht. Stattdessen bedienen sie die alten Vorurteile vom ach so faulen Süden, der auch noch korrupt ist. Das kommt bei manchen gut, vor allem bei der AFD, die damit direkte Steilvorlagen aus der Bundesregierung bekommt. Aufgrund des Ausmaßes könnte spekuliert werden, stürzte diese Regierung, dann verschwände die AFD im Gully. 

Gefährlich wird es aber erst, wenn die einstigen Könige vom Band herausfinden, dass sie heute als Schlusslicht der Produzenten durch den Kontinent taumeln. Vorbei die goldenen Zeiten. Sie verdienen weniger, sie arbeiten länger und ihre Renten sich schlechter. Das soll sie aufwiegeln gegen die Kollegen im Süden. Es kann aber auch anders kommen.

Die schwäbische Hausfrau

Was ist das für ein Staat, so kann man sich fragen, der in finanzpolitischen Krisen eine Vorstellung volkswirtschaftlicher Rationalität bemüht, die zwar die Kuriosität eines Landstriches beschreibt, aber weder die Marktwirtschaft beflügelt noch dem Auftrag des Staates entspricht. Tugenden, wie sie die schwäbische Hausfrau, von der geredet wird, mitbringt, wie Sparsamkeit, Disziplin, Genügsamkeit und langen Atem, die braucht ein Staat zuweilen auch. Aber ein Staat, dessen Wirtschaft zu den Exportgiganten zählt und sich in einem globalen Konkurrenzkampf befindet, ist grundsätzlich mehr als schlecht beraten, wenn er sich als Verhaltensparadigma das einer konservativen Privatperson wählt.

Bei der einer Geisterbahnfahrt gleichenden Debatte um die Staatsverschuldung, die die Staatsausgaben als absolute Summe darstellen, ohne die staatlichen Forderungen gegen zurechnen oder in Relation zur nationalen Wertschöpfung zu setzen, wird man den Verdacht nicht los, dass suizidale Triebe im Spiel sind. Abgesehen von der durchaus demagogischen Absicht, die Spekulationsvabanques der Banken, die durch staatliche Mittel gedeckt wurden, in möglichst schnelle Vergessenheit geraten zu lassen, um von den eigenen Beteiligung an der Krise abzulenken, ist auch auf diesem Feld die Erklärung längst nicht erfolgt.

Die Popularität des Verhaltens der schwäbischen Hausfrau hat dazu beigetragen, dass in diesem Land gespart wird wie in keinem anderen und das Thema der Investition verwaist ist. Deutsche Privathaushalte legen, so sie dazu in der Lage sind, ihr Geld lieber auf die hohe Kante, als dass sie in wie immer geratene Unternehmungen investierten. Nicht genug mit dieser Eigenart, stimuliert der Staat seine Bürgerinnen und Bürger, an diesem Verhalten festzuhalten. Mit hohen staatlichen Subventionen werden Sparstimuli geschaffen, die dem Unternehmertum wie dem Markt systematisch das Geld entziehen. Das führt wiederum zu der Situation, die vielen Banken vorgeworfen wird: sie sitzen auf Geldmengen, die investiert werden wollen. Der Druck der Sparer auf zu erwartende Renditen führt seinerseits zu Investitionen, die mehr als riskant sind und so dreht sich eine Schraube, die in der Illusion, die mit der schwäbischen Hausfrau begann, ihren Impuls nahm.

Der Staat selbst sollte die Aufgabe haben, sich um Felder wie Infrastruktur und Bildung zu kümmern. Er sollte sich dabei verhalten wie ein Unternehmer und nicht wie eine Privatperson. Selbst bei einer historischen Betrachtung stellt sich sehr schnell heraus, dass öffentliche Investitionen immer rentabler sind als ein fiktiv zu erwartender Kapitalzins. Hätte man die Summen, die letztendlich aufgewendet wurden, um das aus dem Sparwahn einer gesamten Nation erwachsene Debakel aufzufangen, um die infrastrukturellen Defizite z.B. bei der Bahn zu beseitigen und flächendeckende Ganztagsschulen, die baulich wie vor allem pädagogisch den Namen verdient hätten einzurichten, dann stünden die Zukunftsperspektiven dieses Landes dramatisch anders. Aber, wie so oft, ist der Konjunktiv die Ausdrucksform für die Regel der verpassten Chance.