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Die Barbarei hinter dem Kulturbegriff

Jede Nation hat ihren eigenen Begriff von Kultur. Das verwundert nicht, weil die Geschichten der einzelnen Nationen verschieden sind und das, was sich in ihrem Prozess der Zivilisation abgespielt hat, immer wieder Eigenheiten aufbietet, die mit anderen nicht verglichen werden können. Deutschland selbst tat sich bekanntlich sehr schwer in der Herausbildung eines Nationalstaates, als in Frankreich die große französische Revolution in der zentralen Hauptstadt Paris ausbrach, da war, um Heinrich Heine zu zitieren, Deutschland noch ein Flickenteppich aus 36 Fetzen, sprich Fürsten- und Königtümern, die nach eigenen Verordnungen lebten. Dabei hatte es schon, selbst in diesem Jahrhundert, einen Wurf gegeben, die Kultur einer Nation zu definieren. Das war niemand geringerer als Kant, der den Begriff Kultur in einen engen Konnex zum Niveau der zivilisatorischen Entwicklung gebracht hatte.

Es wäre schön gewesen, wenn es bei dieser Nüchternheit geblieben wäre, aber der erst 1871 entstandene Nationalstaat und seine Monarchie waren schnell mit der Moderne überfordert und es wurde das Heil in einem Krieg gesucht, in dem die Monarchie unterging und in dessen Nachgang die Nation wieder so ins Schlingern kam, dass Mystiker und Runenleser dem verängstigten Volk eine große Zukunft versprachen. Nur handelte es sich nicht um Heilsbringer, sondern um dreiste Schwindler und Betrüger, die auch den Grundstein legten für einen Kulturbegriff, der vor allem eines sollte: die Barbarei verschleiern, die sich hinter ihren Taten verbarg. Ihnen haftete nichts Zivilisatorisches mehr an, und sobald das ruchbar wurde, wurde von der Kultur gesprochen. Dazu zündete man Räucherkerzen an und sprach des Nachts in großen Hallen. Diese Erweckungserlebnisse der Barbaren im Kontext der Begriffes Kultur wirken bis heute nach. Immer, wenn etwas geschieht, das rational nicht mehr unbedingt dem vorhandenen Horizont entspricht, taucht der Begriff der Kultur auf und es geht ein Raunen durch die Versammlung, das das wachsende Gefühl der Erhabenheit eskortiert.

Die Methode ist derartig erfolgreich, dass sie von allen möglichen Scharlatanen immer wieder abgeschaut und erneut verwendet wird, sodass der Begriff der Kultur, zumeist angekettet an ein anderes Wort, inflationiert worden ist. Die Ergebnisse, die man bei der Befragung derer bekäme, die an einer solchen Kultur teilhaben, würde belegen, dass es sich um eine rein emotionale Angelegenheit handelt. Deshalb ist es sinnvoll, den Begriff der Kultur wieder einer wesentlich sachlicheren Betrachtung zuzuführen und ihn zwecks Aufarbeitung des post-faschistischen Emotionsdesasters in die Labore der Soziologie zu verfrachten, wo er besser aufgehoben ist.

Niklas Luhmann zum Beispiel, ein durchaus konservativer Geist, bestach mit dem Vorschlag, die Kultur über eine Ebene zweiter Ordnung zu definieren. Er schlug vor, Kultur als die Beschreibung sozialen Handelns zu sehen, und zwar über die Beobachtung, wie soziales Handeln beschrieben würde. Das ist spannend, und nur der einfachste Versuch, dieses zu tun, zeigt, wieviel reche, aber eben auch kalte Erkenntnis sich hinter dieser Methode verbirgt.

Eine andere Sichtweise ist eine sehr moderne, quasi aus den aktuellen Journalen des soziologischen Diskurses, in denen Kultur als jede Form des sozialen Daseins definiert wird. Das hört sich sogar etwas sehr banal an, birgt jedoch den Vorteil, auch hier mit einer Nüchternheit zu Werke zu gehen, die dazu stimuliert, das Feld des Zivilisatorischen wieder in den Blick zu bekommen. Der sakrale Gebrauch des Kulturbegriffs führt immer wieder in die Täuschung. Nüchternheit und zivilisatorisches Denken tragen dazu bei, dem Spuk ein Ende zu bereiten.

Ohne Vision, ohne Charme, ohne Charisma

Bereits vor vielen Jahren wurde in den USA eine Diskussion geführt, die als so etwas wie die Soziologie der Präsidenten genannt werden kann. Vorausgegangen war eine Untersuchung über Herkunft, Milieus und Sozialisation der jeweiligen US-Präsidenten. Hoch brisant waren die Schlussfolgerungen, die die Untersuchenden zu treffen hatten. Demnach waren diejenigen Präsidenten, die vor allem im politischen Milieu der Großstädte sozialisiert worden waren gute Verwalter, die das Geschäft kannten, aber keine Innovatoren, die in der Lage gewesen wären, das System zu verändern. Das blieb den Präsidenten vorbehalten, die aus der Provinz kamen und als junge Leute buchstäblich im Weizenfeld gestanden und auf einen unendlichen Horizont geblickt und dabei eine Vision entworfen hatten.

Empirisch, am Beispiel der USA, ließen sich diese Thesen halten. In der nachfolgenden Diskussion wurde beklagt, dass die Tendenz immer mehr und auch natürlicherweise zu dem Politiktypus ginge, der seine Herkunft im urbanen Milieu habe und damit die Zeit für die Visionäre vorbei sei. Aus dem Bauch betrachtet und bei einer Reflexion der Erfahrungen in Deutschland scheinen die Thesen allesamt nicht abwegig. Interessant ist allerdings aus heutiger Sicht noch eine weitere Entwicklung. Es ist die Frage, inwieweit in der Logik von heutigen Politikerinnen und Politikern, einmal unabhängig wo sie sozialisiert wurden, die Vorstellung von der Nützlichkeit einer Vision überhaupt noch existiert. War nicht der Großstädter Helmut Schmidt derjenige, die denen, die in der Politik Visionen nachhingen, dringend einen Besuch beim Arzt empfahl?

Vielmehr ist festzustellen, dass das Visionäre mit dem unbändigen Trend der Demoskopie aus der Politik gewichen sind. Plötzlich waren es nicht mehr Politiker oder Parteien, die mit Vorstellungen und Programmen um die Wählerschaft warben, sondern das Denken und vor allem das Fühlen der Wählerschaft selbst bis hin zu Detailfragen, das begann, das Handeln der Politik zu beeinflussen. Die Arithmetik dieses Trends hat zu dem Dilemma geführt, dass nun ausgerechnet ein Großteil der Wählerinnen und Wähler wiederum selbst beklagt: Eine sich in Alltags- und Detailfragen verlierende Politik ohne Vision, Charme und Charisma.

Die Branche, die über das politische Geschehen referiert, Presse und Medien, hat sich diesem Trend durch ein normatives Anforderungsprofil für Politiker angeschlossen. Da sind Pragmatiker gefragt, die auf das Tagesbedürfnis der Bevölkerung eingehen und es tunlichst vermeiden, die Notwendigkeit von schmerzhaften Schritten oder Anstrengungen zu formulieren, um politische Ziele erreichen zu können. Das Pendant zu diesem absurden Profil wurde in derselben Branche ebenfalls entwickelt, nämlich ein Volk, das zu jeder Idee und jeder Vorüberlegung bereits gefragt wird, ob es die Politik autorisiert, darüber weiter nachzudenken und das vor allem nie in seiner Selbstgerechtigkeit und vorurteilsbeladenen Befindlichkeit irritiert werden darf. Das ist die suggerierte Form guter Demokratie und bewirkt genau das Gegenteil. Es ist das tödliche Gift, das den politischen Diskurs unterbindet und zu einem scheinheiligen Brot-und-Spiele-Szenario abgleitet.

Politikerinnen und Politiker, die über Visionen verfügen, müssen dieses quasi geschickt kaschieren, um überhaupt noch einigermaßen fair behandelt zu werden. Wer die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen auch nur andeutet, wird den medialen Wölfen zum Fraß vorgeworfen und man erzählt sich, dass es hier und da dennoch Politikerinnen und Politiker geben soll, denen es gelungen ist, Grundlegendes zu verändern. Das haben sie jedoch nicht kommuniziert und deshalb leben sie noch. Oder anders herum: Die Prototypen der non-visionären Politik sitzen in der Bundesregierung, ohne Vision, ohne Charme, ohne Charisma. Kommt da nicht so langsam der Wunsch nach Politikerinnen und Politikern, die auf Wanderschaft waren, zur See gefahren sind oder im Kornfeld standen?

Entmachtet die Oligarchen!

Jean Ziegler. Ändere die Welt!

Eines muss man ihm lassen: In seiner langen politischen Karriere hat er viele Menschen in hohem Maße an- und aufgeregt. Insgesamt 28 Jahre saß er als Genfer Abgeordneter im Nationalrat für die Sozialdemokratie, er war ordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Genf und ständiger Gastprofessor an der Pariser Sorbonne. Sein Renommee jedoch verdankt er seiner über die Jahrzehnte betriebenen Kritik an der Schweizer Geldwirtschaft und an der Globalisierung. In zahlreichen Publikationen enthüllte er die Machenschaften windiger Oligarchen, er klagte die zu Systematik gereiften Verletzungen gegen die Menschlichkeit an, brachte Licht vor allem in postkoloniale afrikanische wie südamerikanische Verhältnisse und schonte die Strippenzieher in den Metropolen dieser Welt nicht. Dafür bekam er UN-Mandate zum Handeln, woraufhin die Aufregung wiederum groß war. Dieser streitbare und umstrittene Mann ist nun 81 Jahre alt, denkt noch lange nicht an Ruhestand und hat gerade ein Buch publiziert, mit dem er noch einmal aufrütteln will.

Jean Zieglers neuestes Werk, Ändere die Welt. Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen, kann und muss verstanden werden als das politische Vermächtnis dieses überaus streitbaren Mannes. So beginnt das erste der insgesamt 10 Kapitel auch mit der Frage „Was nützt ein Intellektueller?“, womit Ziegler sein Selbstverständnis klärt. Dass er als Prolog Brechts Lob des Lernens zitiert, in dem wiederholt der einprägsame Satz „Du musst die Führung übernehmen“ auftaucht, dokumentiert Zieglers Selbstverständnisses. 

Was dann folgt, ist ein mehrmals wiederholter Perspektivenwechsel zwischen historischem Abriss, philosophischer Grundsatzbetrachtung, politischer Analyse und Appell. Die Qualität der einzelnen Kapitel ist aufgrund dessen sehr unterschiedlich bzw. der Übergang vom einen zum anderen ist oft unvermittelt. Für Ziegler spricht, dass er nicht in der sterilen Sprache der Wissenschaft unterwegs ist, sondern wechselt zwischen Erlebnisbericht und dem Verweis auf literarische Vorlagen. Das ist kurzweilig und von teilweise hoher Qualität. 

Die politischen Aussagen des Buches hingegen lassen keine Zweifel zu. Nach Ziegler existieren weltweit Klassengesellschaften unterschiedlicher Prägung, und wie man sie auch nennen mag, es ist ein Kampf von Arm gegen Reich. Die Epoche der zeitgenössischen Globalisierung hat diesen Kampf verstärkt. Skrupellose Oligarchen hintertreiben die Ordnung der existierenden Nationalstaaten, sie betreiben ein Hase und Igel-Spiel mit den nationalen Gesetzgebungen und ziehen sich immer auf die Terrains zurück, auf denen Korruption und zivilisatorische Defizite herrschen. In Exkursen zu Max Weber, Karl Marx, Jean-Jacques Rousseau greift er auf die bürgerliche Moderne und ihren Einfluss auf die heute noch existierenden Institutionen zurück. Teilweise interpretiert er die so genannten Klassiker neu, teilweise unterstreicht er ihre weiterhin wirkende Gültigkeit. Anhand zahlreicher Beispiele sucht Ziegler seine Thesen zu belegen, was nicht immer gelingt, weil die Beweisführung zuweilen sehr sprunghaft ist.

Bemerkenswert ist der vor allem im Resümee vertretene Optimismus. Der lebenslange Aktivist sieht durchaus Möglichkeiten, die globale Herrschaft der Oligarchen zu brechen. Darin kann und sollte man ihm folgen, wenn man den Verstand nicht frühzeitig verlieren will und sich die realen Kräfte vor Augen führt, die unter dieser Herrschaft leiden und was sie auszurichten vermöchten, wenn sie mobilisiert werden könnten.

Ändere die Welt! Ist ein dringlicher Appell eines Menschen, der jenseits seiner teilweise brüchigen Theorien anhand seiner Biographie eindrücklich bewiesen hat, dass es tatsächlich möglich ist.