Der verstorbene Helmut Schmidt pflegte zu sagen, dass sich in der Krise der wahre Charakter zeige. Damit hatte er wohl Recht. Der besondere Zustand ist es, der außerhalb der Komfortzone, der zeigt, inwieweit ein Mensch mit sich und seiner Umwelt im Einklang steht. Krisen sind nicht nur ein Prüfstein für den Charakter von Menschen, sondern auch eine hervorragende Gelegenheit, die Fähigkeit von Menschen und sozialen Systemen zu beobachten, mit dem Unvorhergesehenen umzugehen. Die jetzige Bundesregierung und ihre Protagonisten mögen nach dem, wie sie mit den gegenwärtigen Krisen umgehen, danach beurteilt werden, wie sie charakterlich dastehen. Und, sie können danach beurteilt werden, wie sie politisch, denn das ist ihr Auftrag, mit den Krisen umgehen.
Um es ganz alltäglich zu formulieren: Irgendetwas Unvorhergesehenes passiert, das vieles der täglichen Routine in Frage stellt. Wie gehen Menschen damit um? Hadern sie mit dem Schicksal? Suchen sie nach Schuldigen? Versuchen sie den Schlag zu vertuschen? Werden sie hysterisch oder cholerisch oder depressiv? Oder versuchen sie, den Erfordernissen des Besonderen mit ihren Mitteln nachzukommen und die neue Situation als Grundlage für zukünftiges Handeln zu etablieren?
Das soziale und das politische System, nicht zu vergessen auch von Menschen gemacht und zu verantworten, wie reagieren deren Institutionen? Wie schnell akzeptieren sie die neuen Bedingungen? Wie erklären sie das, was passiert ist? Welche praktischen Schlussfolgerungen ziehen sie daraus für ihr eigenes Handeln? Oder deklarieren sie den neuen Zustand als eine Störung, die schnellstens zu beheben ist, damit der Status quo ante möglichst schnell wieder hergestellt ist? Und leistet vor allem das politische System den Erklärungstransfer, der zu seiner ureigensten Pflicht zählt: Stellt das politische System den Menschen den Zustand von Freiheit her, der es ihnen ermöglicht, Einsichten in das Notwendige zu entwickeln?
Bei dem Versuch, herauszufinden, was momentan bei den politischen Akteuren wie im politischen System der Bundesrepublik passiert, ist es hilfreich, unabhängig von der einzelnen Adressierung der einen oder anderen Analyse oder dem einen oder anderen Handlungsvorschlag das Grundrauschen zu identifizieren.
Auf diesem Kanal klingt immer wieder die Phantasie von einem Naturereignis, das auf keinen Fall mit der eigenen Politik auf der Welt etwas zu tun hat und wenn überhaupt etwas mit Politik, dann sind es andere Mächte, mit denen man nichts zu tun hat. Diese Befindlichkeit ist verhängnisvoll, weil sie keine praktischen Konsequenzen für die eigene Außenpolitik nahelegt, sondern das Bestreben erkennen läßt, so fortzufahren wie bisher.
Die Institutionen, die die Geschäftsführung des Staates zu verantworten haben, entwickeln keinerlei Konzepte, die das Handeln unter völlig neuen Bedingungen ermöglichen. Vielmehr versuchen sie die neue Realität in ihre eigene, alte zu zwängen. Die alten Strukturen wie Handlungsweisen werden als ultima Ratio gehandelt und es wird versucht, vor einer schwierigen Lage ein gutes System vor schlechten Menschen zu rechtfertigen. Das ist keine Krisenstrategie, das ist Apologetik!
Letztendlich sind die Protagonisten aus der Regierung Beispiele dafür, was Helmut Schmidt im eingangs bemühten Zitat zu fokussieren suchte. Ja, das wussten auch schon unsere weitaus profaneren Großeltern, bei Schicksalsschlägen zeigt sich der wahre Charakter. Und so ist es, angesichts der Tatsache, dass die Herausforderung eine extreme ist: Es geht um die Menschen, die kommen und es geht um die Menschen, die hier sind. Und angesichts dieser, wie gesagt Herausforderung, wie sieht denn da das Jonglieren mit der Spekulation auf die nächste demoskopische Erhebung aus? Zeigt es Charakter? Zeigt es die Fähigkeit, unter schwierigen Bedingungen arbeitsfähig zu sein? Oder zeigt es, dass dieses Personal deplaziert ist?
