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Appeasement, Regime-Change und die Blase

In der EU wird wieder einmal gekungelt. Das wird zwar nicht so genannt, entspricht aber dem Charakter, den man gerne Konsultation nennt. Außenminister Maas tat alles, um den Eindruck zu vermeiden und berichtete von Übereinkünften, die es nicht gibt. Es ging nämlich zunächst um einen Antrag Griechenlands, in dem eine scharfe Verurteilung und die Androhung von Sanktionen gegen die Türkei wegen der Gasbohrungen in griechischen Gewässern gefordert wurde. Darauf konnte man sich nicht einigen. So, wie es scheint, ist Souveränität weiterhin verhandelbar. Aufgrund dieser Zurückweisung sahen es die Vertreter Griechenlands jedoch nicht ein, sich einem restriktiven Vorgehen gegen Belarus anzuschließen. Dort hatten, das ist bekannt, Wahlen stattgefunden, die wahrscheinlich manipuliert wurden, was zu Massenprotesten geführt hat. Trotz der nicht zustande gekommenen Beschlussfassung über auch von der Bundesregierung geforderte Sanktionen stellte der deutsche Außenminister es im Anschluss an die Sitzung dar, als sei dies geschehen.

Angesichts des zu beobachtenden Vorgehens beziehungsweise der Art und Weise, wie innerhalb der Organe der EU verhandelt wird, lässt sich einiges lesen. Zum Beispiel, dass die Appeasement-Politik gegenüber der Türkei, die vor allem immer wieder von Deutschland gepuscht wird, nach wie vor Bestand zu haben scheint. Massenverhaftungen, Terror gegen Richter und Staatsanwälte, Lehrer und die Presse, Bombardierung kurdischer Regionen im eigenen Land, kriegerische, völkerrechtswidrige Handlungen in Syrien, Unterstützung der Islamisten in Libyen, und nun das Schnüffeln nach Ressourcen in fremden Gewässern, zudem denen eines EU-Mitglieds – das alles reicht nicht, um einen Mechanismus auszulösen, der sich auf die bis zur Ermüdung gebrauchten Begriff der Wertegemeinschaft zu beziehen wäre? Nein. 

Warum sich die Bundesregierung, zumal deren sozialdemokratische Teile, gerne als die Pioniere von Regime-Change-Projekten zu profilieren suchen, wie es in der Ukraine Steinmeier und, im Falle Belarus, Maas tut, bleibt ihr Geheimnis. Sie dokumentieren damit, dass sie mit ihrer einstigen Klientel nichts mehr am Hut haben und weiterhin mit Erfolg an ihrer eigenen Demontage arbeiten. Verdeutlicht wird dieses durch eine kleine Episode, die Deutungsmacht besitzt. Da schrieb eine Gewerkschaftsgruppe aus dem Ruhrgebiet einen Brief an die Demonstranten in Minsk, in dem sie sich mit den Menschen dort solidarisch erklärten und freie und geheime Wahlen forderten. Aber, und da wird die Schere deutlich, sie rieten den Protestierenden, sich in anderen osteuropäischen Ländern genau umzuschauen, welche Optionen zur Verfügung stünden.

Sie verwiesen auf das Regiebuch, das die Regime-Change-Initiatoren befolgen: Privatisierung all dessen, was in stattlicher Verwaltung ist, was gleichkommt mit der Aufteilung des öffentlichen Eigentums unter Oligarchen und international operierenden Konzernen, Zerstörung tariflicher Standards, Zerschlagung der Sozialsysteme, so frugal sie auch gewesen sein mögen – kurz, eine moderne Form des Manchester-Kapitalismus, der schlimmer daherkommt als sein Original. Die Initiatoren des Briefes wünschten den Menschen in Minsk brennende Herzen, Mut und einen klaren Kopf.

Zu Zeiten, als es noch politische Parteien gab, die sich in erster Linie um die Lebensverhältnisse derer kümmern wollten, die nichts hatten als ihre Arbeitskraft, wäre ein solcher Brief auch dort formuliert worden. Heute sind es einzelnen Aktivisten, die aufgrund der eigenen, schmerzhaften Erfahrungen nur noch Warnungen aussprechen können. Von der Analyse her stand der Inhalt des Briefes allerdings weit über dem Niveau dessen, was die Bundesregierung derzeit – zumindest öffentlich – zum besten gibt. Was die Akteure dort nicht begreifen wollen, ist das wachsende Bewusstsein darüber, dass Regime-Change-Aktionen, scheinbar weit weg, als feindliche Akte gegen sich selbst von großen Teilen der Bevölkerung wahrgenommen werden. Da stellt sich die berechtigte Frage, wer es eigentlich ist, der in der Blase lebt?

Nichts ist umsonst und alles hat seinen Preis

Ein kulturelles Massenphänomen scheint sich, zumindest in bestimmten Kreisen, stabil etabliert zu haben. Es ist das Gefühl, dass Institutionen, die das eigene Leben unterstützen und regeln und Leistungen, auf denen vieles andere aufbaut, selbstverständlich sind. Die Nutznießer all dessen fragen nicht mehr, woher das kommt, weil es sie nicht interessiert. Das könnte als das stereotype Lamento derer gewertet werden, die nur noch auf das Leben zurückschauen, wenn das Phänomen nicht eine gravierende politische Dimension hätte. Es handelt sich nicht um eine altersspezifischer Erscheinung, sondern um ein kollektives Versagen. Ein Versagen des Gedächtnisses und, schlimmer noch, ein Versagen praktischer Kompetenz.

Sehen wir es gleich politisch, dann wird es deutlich. Alles, wovon Menschen, die bestimmte Gehälter bekommen, Sozialstandards, die in Anspruch genommen werden und gesetzliche Bestimmungen, die Menschen vor den Kannibalen des Eigennutzes schützen, alles ist das Ergebnis von Koalition und Kampf. Nichts, aber auch gar nichts wird geschenkt im Leben. Und alles, was etwas nützt, hat seinen Preis. So war es mit Löhnen, so war es mit Versicherungen, so war es mit Rechten, so war es mit Gesetzen. Wer denkt, das alles seien die philanthropischen Gaben eines politischen Systems, der hat die Geschichte der Gattung nicht begriffen. Und diese Bemerkung gilt systemübergreifend, wer nicht kämpft, hat keine Rechte.

Grundlage einer jeden sozialen und politischen Auseinandersetzung ist die Koalition. Und das wohl wichtigste Recht dieser Gesellschaft ist das Koalitionsrecht. Wer sich nicht zusammenschließen darf, startet jede Art von Emanzipationsbestreben aus der Illegalität heraus. Daher ist es das Wichtigste, was wir haben. Das Problem, dass sich aus unserer Gesellschaft immer mehr herausschält, ist die Aufweichung der Koalitionsrechte. Und zwar von innen heraus. Nicht rechtliche Einschränkungen gefährden die Koalitionsrechte, sondern die Passivität derer, die das Recht haben, sie wahrzunehmen.

Die große Organisation und Koalition für die ökonomischen Kämpfe und alles, was damit zusammenhängt, sind die Gewerkschaften. Sie waren in Deutschland die größeren ihrer Art weltweit und ihr Arm reichte bis in jede Chefetage. Durch chronische Arbeitslosigkeit und viele Faktoren die Entmündigung und Selbstbestimmung von innen wie von außen wurde ihr Einfluss beträchtlich unterminiert. Aus einem Kampforgan ist eine in Regierungskreisen verkehrende Bürokratie geworden, die zwar nach wie vor vieles garantiert, auf der anderen Seite jedoch die schmerzhaften Auseinandersetzungen scheut. Ihre Position im „systemrelevanten“ Volkswagenkonzern illustriert das ganze Dilemma.

Die einst große politische Partei, die aus den ökonomischen Bedürfnissen das politisch Folgerichtige formulierte, hat durch die Geschäftsführung der Regierung seit dem „Ende der Geschichte“ im Jahr 1990 kontinuierlich ihre Essenz verloren. Heute gehört sie zu einem bürgerlich gemäßigten Konglomerat, in dem sich auch andere, historisch weniger bedeutende Parteien wiederfinden. 

Gibt es einen Weg zurück? Existiert die Möglichkeit, dass sich die historisch einst erfolgreichen Organisationen der Koalition wieder zu dem entwickeln, was ihre Stärke ausmachte? Die Beantwortung dieser Fragen hängt sehr stark mit dem zusammen, was sich in den Köpfen derer abspielt, die in dem ganzen Spiel eine Rolle wahrzunehmen haben. Fragen sie sich, was sie gerne hätten, was ihr Bedürfnis mit ihnen macht und was sie brauchen, um ihr Leben möglichst ruhig weiterführen zu können? Dann ist die Antwort negativ. Oder fragen sie sich, was klug und notwendig ist, um dem systematischen Feldzug der Bereicherung und Zerstörung entgegenzutreten? Dann könnt etwas entstehen.

Ein Kreuz aus Asche wird nicht reichen

Vielleicht passt es ja ganz gut, dass die Konkretisierung der Regierungsbildung in die Hochzeit des Karnevals fällt. Noch einmal, so scheint es, kann man es so richtig treiben, bevor die Zeit des Insichgehens und des Fastens beginnt. Das Gewese um die Personalie des Außenministers macht deutlich, dass jegliches Maß verloren gegangen zu sein scheint. Die unglücklichste Figur bei diesem Schauspiels liefert ausgerechnet jener Mann, der noch nicht einmal vor einem Jahr mit 100 Prozent Zustimmung zum Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokratie gewählt wurde. In das Amt, das einmal für Richtung und Haltung stand. Dann, nach einer erneuten Wahlniederlage, die wieder einmal alle Enttäuschungen der letzten Jahre übertraf, formulierte eben dieser Mann die Überzeugung, dass es jetzt an der Zeit sei, in die Opposition zu gehen, auf keinen Fall in eine Koalition mit der CDU einzutreten und dem Land das zu geben, was es so bitter nötig habe: Eine Kraft, die den Regierenden Paroli bietet, um den gesellschaftlichen Diskurs zurück ins Parlament zu holen.

Doch da hatte der Vorsitzende die Rechnung ohne den früheren, genauso unglücklichen Kanzlerkandidaten gemacht, der es aber mittlerweile zum Präsidenten der Republik gebracht hat. Der definierte das Problem der Kanzlerin, ihre Macht verlieren zu können, zu einer Krise des Staates. Und, anstatt dem Präsidenten einmal zu erklären, was eine lebendige Demokratie ist, legte der letzte unglückliche Kanzlerkandidat die Hände an die Hosennaht und widmete sich dem Machterhalt für das Modell Merkel. Und zu allem Elend kam dann noch sein Wunsch, in einer neuen großen Koalition das Amt des Außenministers bekleiden und den Parteivorsitz wieder abgeben zu wollen. Da fühlte sich der noch amtierende, ehemalige Außenminister der gleichen Partei aus dem Amt gemoppt und protestierte öffentlich. Das verursachte ein kräftiges Rumoren in der Partei, was wiederum zur Folge hatte, dass der Parteivorsitzende auf das Amt verzichtete.

Es stellt sich die Frage, was denen, die dort agieren, außer der eigenen Karriere so durch den Kopf geht. Leider kann man, selbst bei wohlwollendem Nachdenken, nur zu dem Ergebnis kommen, dass es nicht viel sein kann. Vieles spricht dafür, dass sich die SPD in der tiefsten Krise ihrer Geschichte befindet. Wie gesagt, wer nach Richtung und Haltung sucht, der wird diese Prinzipien höchstens nur noch in dem einen oder anderen Ortsverein oder bei den Jungen finden. Der Rest ist von Amt und Macht dermaßen korrumpiert, dass es weder Scham noch Hemmungen gibt.

Was meinen diese Figuren wohl, wie sich ihr Stück, das sie aufführen, auf die Befindlichkeit derer auswirkt, die sich durch die Politik der letzten Jahre, die durch große Koalitionen und Friedhofsruhe geprägt waren ständig bedrohlicher wurde? Der schlaue Präsident, der den grausamen Status quo als Staatsräson gepriesen hat, ist wahrscheinlich dabei noch der Verirrteste von allen. Die Politik des Machterhalts von Merkel hat die Sinnkrise des politischen Systems auf eine neue Höhe getrieben. Das politische System hat gelitten und eine der Parteien, die potenziell zumindest die Möglichkeit geboten hätte, gegen das Auseinanderdriften von Arm und Reich aufzustehen, droht in der Bedeutungslosigkeit zu enden.

Noch wenige Tage werden die Narren durch die Straßen rennen und dem politischen Treiben den Rahmen geben, den es verdient. Dann kommt die Zeit des Erwachens. Da ist es mit einem Kreuz aus Asche auf der Stirn nicht mehr getan.