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Die Hohe Schule der Diplomatie und das lokale Banausentum

„Have more than you show 

Say less than you know.“ 

Der Satz entstammt der Feder William Shakespeares. Er kann nicht nur als eine kluge Lebensdevise, sondern auch als eine thematische Einführung in die hohe Kunst der Diplomatie gelesen werden. Fragte man zu diesem Thema noch andere, historisch als einzigartig eingestufte Diplomaten, wie den in allen Farben schillernden Kardinal Richelieu, der alle politischen Wetter überstand, die seine Zeit erlebte, dann könnte man als Lektion II noch hinzufügen:

„Diplomaten regen sich nicht auf. Sie machen sich Notizen.“

Die beiden Sätze allein wirken wie Kontrastmittel für den Zustand, den die internationale Diplomatie seit der Revitalisierung des Kreuzzuggedankens in unseren Tagen erlebt. Da wird nicht mehr im Schutz der Stille einander zugehört, da wird nicht bedachtsam austariert, wo sich selbst unterschiedliche Interessen treffen könnten, um vielleicht einen Modus Vivendi zustande zu bringen. Da ist von vornherein klar, mit welcher Agenda die Bugfiguren des Äußeren anreisen. Da sind die Kommuniqués bereits formuliert, bevor man sich die Hand geschüttelt hat oder die unterschiedlichen Standpunkte pressereif formuliert für den Fall, dass man nicht doch wider Erwarten zu einem Konsens kommt. Man fragt sich, warum man sich überhaupt noch trifft. Alles ist klar, zu verhandeln gibt es nichts. Und wer sich dennoch zu Wort meldet und Fragen stellt, ist ein umstrittener Querulant, den man am liebsten durch Mehrheitsbeschlüsse zum Schweigen bringen möchte. 

Das vor allem im aufmerksamkeitsabhängigen Westen auszumachende Schrumpfen diplomatischer Kompetenz hat erschreckende Ausmaße angenommen und sägt beharrlich an der Reputation aller Staaten, die sich diesem hirnrissigen wie schädlichen Kommers hingegeben haben. Ja, es soll vorkommen, dass die Oberhäupter einst geachteter Staaten, die bei Besuchen mit allen Feinheiten eines Protokolls empfangen wurden, jetzt nur noch vom Küchenpersonal begrüßt und mit gebücktem Haupt unter den Abzugshauben in den Speisesaal geleitet werden. Das liegt, damit kein Missverständnis aufkommt, nicht an der Boshaftigkeit der Gastgeber, sondern and deren Befürchtung, dass unter dem Staatsbanner und im Fokus der eigenen Öffentlichkeit unflätig in die Mikrophone gerülpst wird. Die Banausen bleiben draußen.

Dem Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde jüngst bei seinem China-Besuch eine doppelte Lektion zuteil. Zum einen merkte er bei seiner Ankunft, dass das große Protokoll ausblieb und ihm ein kühler Ostwind entgegenschlug. Und dann, bei einem Treffen mit dem als strategischem Rivalen ausgemachten Staatspräsidenten der Volksrepublik Chinas, Xi Jinping, erhielt er doch noch eine Vorstellung von den Möglichkeiten, die ein Denken in diplomatischen Kategorien und in der Verwendung kluger Metaphern beinhalten. Angesprochen auf die Aussichten eines Friedens in der Ukraine formulierte Xi Jinping es folgendermaßen:

„Bei Friedensverhandlungen müssen alle an einem Tisch sitzen und niemand darf auf der Speisekarte stehen.“

Von der Macht des Bildes, von der Klugheit im Sinne diplomatischer Gepflogenheiten gehört es zu der Hohen Schule dessen, was mit Shakespeare und Richelieu bereits angedeutet wurde. Man lasse den Satz auf sich wirken und denke an die Möglichkeiten politischen Handelns, die er birgt!

Und man denke bitte nicht an das lokale Banausentum, das täglich seinen vulgären Unrat an die Außenwände dieses Staates schmiert! Das zu dulden, ist eine schlechte Referenz für die Selbstachtung.

Der Formalismus ist die große Falle

Wenn ein Trugschluss unsere gegenwärtige Epoche beherrscht, dann ist es die Vorstellung, bei Beibehaltung der Form entspräche man automatisch dem Inhalt. Formalismus ist die große Falle, in der nahezu alle verfangen sind. Und der Unmut, der sich über die ganze Gesellschaft ausbreitet, ist dem Instinkt geschuldet, dass da irgend etwas mächtig aus dem Ruder gelaufen ist.  Und, das versteht sich nahezu von selbst, am gravierendsten ist das Missverhältnis auf dem Feld der Politik zu spüren. Das meiste, was dort vonstatten geht, entspricht den Erfordernissen der Form. Mehrheiten sind Mehrheiten und Beschlüsse sind Beschlüsse. Und dennoch sind die anderen Mehrheiten, auf die es in jeder Gesellschaft ankommt, nämlich die Mehrheiten aus der Gesellschaft, mit den Mehrheiten, die in den Parlamenten die Beschlüsse fassen, nicht zufrieden. Wie das kommt? 

Zum einen spielt sicherlich eine Tendenz eine nicht unerhebliche Rolle, und das ist die der egozentristischen Entartung. Viele Menschen sind nach einer über Jahrzehnte währenden Entwicklung dahin gehend geprägt worden, dass nur das, was sie direkt, im konkreten eigenen Bereich und Heute betrifft, von Interesse ist. Was darüber hinausgeht, gilt als uninteressant. Das mag ein gelungener Ausdruck individueller Fresssucht sein, ein Zeichen von gesellschaftlicher Weitsicht ist es nicht. 

Und der andere, wesentlich gravierendere Grund ist allerdings die Verselbständigung der Politik. Sie findet in einer von allen störenden gesellschaftlichen Partikeln des Alltags chemisch gesäuberten Atmosphäre statt, in der das Volk, in dessen Auftrag man eigentlich unterwegs ist, nur als präparierte Kulisse vorkommt.  Wenn das dann dennoch gleich einem Unfall tatsächlich zu den Mandatsträgern vordringt, wird es zumeist peinlich. Dann, so die Ferndiagnose der abgekapselten Politik, kann es sich nur um U-Boote der immer zahlreicher werdenden äußeren  Feinde oder um mit dem Irrsinn verbandelte Sonderlinge handeln. 

Die tiefe Überzeugung aller, sie handelten richtig, wenn sie nur der Form entsprächen, ist ein Symptom einer Zeit, in der Wesen und Inhalt immer mehr zu einem Arrangement verkommen sind, in dem das Dekors eine wesentlich größere Rolle spielt als der Kern. Der Italiener Alessandro Barrico hat das in einem lesenswerten Essay in der Zeitschrift La Republica beschrieben, über die Musik bis zum Fußball und zur Frikadelle, hat er die Oberflächlichkeit umrissen, mit der wir es epistemologisch zu tun haben. Die Tiefe und damit das Wesen ist längst passé und die Welt des Westens, der seinerseits zu seiner Blüte durch die Aufklärung gekommen ist, zerfleischt sich in einem Kampf um Schachtelaufschriften und ist nicht mehr in der Lage, sich über das zu streiten, auf das es wirklich ankommt.

Wie damit umgehen? Vielleicht am besten mit Shakespeare: 

„Wir wissen nicht einmal, wer wir sind,

Es kommt, was kommen muss,

Und das geschwind!“

Neben der erkenntnistheoretischen Eintrübung, die die Digitalisierung mit sich gebracht hat, kommt in Deutschland noch das bis heute wabernde Trauma der bösen Tat hinzu. Da ist guter Rat teuer, außer dem Hinweis an alle, die noch etwas Verstand und Zuversicht in sich tragen, zu appellieren, niemals dem Unrecht den Rücken zu kehren und auf sich selbst zu achten. Das ist, angesichts der gewohnten Vollmundigkeit aus chronischer Selbstüberschätzung, vielleicht nicht viel. Aber es kann viele Leben retten. Und das ist schon wieder der Mühe allemal wert. 

Stell dir vor, die Katastrophe zeichnet sich ab, und keiner steht auf!

Heute las ich ein Zitat eines in Deutschland lebenden Juden. Der Mann meldet sich seit Dekaden immer wieder zu Wort und ist ein scharfer Beobachter dessen, was am besten als die deutschen Verhältnisse beschrieben werden kann. Der Mann ist streitbar und vertritt oft Positionen, die ich nicht teile. Dennoch ist er eine wichtige Stimme und trifft mit seinen Analysen oft ins Schwarze. Seine Aussage, die mich nachdenken ließ und mich sofort ansprach, bezog sich auf die deutsche Vergangenheit wie Gegenwart. Wenn ihr euch die Frage stellt, so formulierte er, wie es in Bezug auf die faschistische Katastrophe so weit kommen konnte, dann lautet die Antwort, weil die Leute damals so waren, wie ihr es heute seid. 

Das ist starker Tobak. Und es ist treffend. Denn nichts geschieht, das auf den Wegmarken zur Katastrophe liegt, was zu dem führen würde, das einer lebendigen Demokratie entspräche. Aufschrei, Aufstand, Widerstand. Man sehe sich an, was bis zur jetzigen Katastrophe in Israel geschah. Hunderttausende gingen täglich auf die Straße, um die Gleichschaltung der Justiz zu verhindern. Auch in Polen war der Widerstand groß. In vielen Ländern regt sich bereits der Widerstand gegen die allgegenwärtige Kriegsmentalität. Aber es geht immer weiter. Biden, als Vertreter eines außer rand und band geratenen militärisch-industriellen Komplexes seines Landes, legt die Lunte an alle Fässer, die herumstehen und der deutschen Politik fällt nichts anderes ein, als diesem Feuerteufel blindlings zu folgen. Da ist keine Ratio, kein Verstand und keine Courage. Da ist Untertanengeist, der, wenn man ihm kein Einhalt gebietet, in der Selbstverbrennung endet.

Doch solange die Doppelmoral floriert, scheint sich ein Großteil der Bevölkerung noch nicht zum Existenzkampf motivieren zu können. Solange die medial gefeierten Scharlatane noch soufflieren dürfen, dass wir die Guten sind, bleibt ein Restgift im Körper, das das Vermögen des Aufstehens verhindert. Dabei ist die Verlogenheit augenscheinlich. Nichts wird in der großen weiten Welt dazu führen, dass man diesem Konsortium, das den Krieg als Ultima Ratio gewählt hat, noch ein Wort glauben wird. Wer seine journalistische Kamarilla in die Ukraine schickt, um von den dortigen Opfern des Krieges zu berichten und sie keinen Schritt in den Gaza-Streifen wagen, der darf sich nicht wundern, wenn die eigene Reputation komplett dahin ist. Das Bundesverdienstkreuz für die Berichte der selbst mit inszenierten Kriege, in denen eine einzige Partei Trägerin der Wahrheit sein soll – und schmallippiges Schweigen, wenn woanders Tausende im Feuerofen verbrennen? Das ist ein Verhalten, das die eigene Glaubwürdigkeit ruiniert.

Es gibt immer zwei Seiten. Und beide gehören zur Wahrheit. Wer sich etwas anderes erzählen lässt, hat auch das Grundprinzip der Demokratie nicht begriffen. Und es existiert etwas, das zur Grundbedingung des eigenen Überlebens zu zählen ist. Es ist die Bereitschaft, für das Richtige zu kämpfen. Wer das nicht begreift, hat den Weg in die Katastrophe bereits geebnet. Warum fällt mir gerade jetzt das Zitat Bert Brechts ein, in dem es heißt: „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin!“ Analog zu der Vorstellung des eingangs zitierten jüdischen Landsmannes könnte die jetzige Lage mit einer anderen Variation am besten beschrieben werden: Stell dir vor, die Katastrophe zeichnet sich ab, und keiner steht auf! 

Oder, um auf Shakespeare zurückzugreifen:

„Wir wissen nichtmal er wir sind.

Es kommt, was kommen muss,

Und das geschwind!“