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Die Kommune als Mikrokosmos politischer Theorie

Mit dem bürgerlichen Zeitalter nahm das Schicksal der Kommune so richtig Fahrt auf. Nicht, dass zumindest in der okzidentalen Welt schon weit früher die Stadt als Referenzmodell für das Zusammenleben eine entscheidende Rolle gespielt hätte. Das antike Athen muss als die Wiege angesehen werden für das Räsonnement über politische Theorien, die die Staatsform reflektierten. Dass eine Stadt den Mutterboden für die Demokratie bildete, kam nicht von ungefähr. Nirgendwo ist gesellschaftliches Treiben so kondensiert wie in der Stadt. Hier treffen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen direkt aufeinander, nirgendwo ist die Dynamik der sozialen Interaktion größer. Dass mit der Moderne die Rolle der Stadt hinsichtlich der Reflexion politischer Theorie noch größer wurde, ist ebenso evident. Die globale Entwicklung und die Modernisierung der Welt geht einher mit der Verstädterung von Gesellschaften. Bis zum Jahr 2050, so die Prognose, wird die rasende Verstädterung weltweit weiter gehen. Und sie wird dann nicht zu Ende sein, weil irgend eine Trendwende einsetzte, sondern weil dann der Großteil der Weltbevölkerung in Städten leben wird. Die Bauernarmeen sind schon heute nur noch eine historische Größe. Und die großen Metropolen dieser Welt liegen mittlerweile in den Schwellenländern, wo diese Bewegung in Echtzeit studiert werden kann.

Das erwähnte Referenzmodell Athen gilt als Wiege der Demokratie. Als Blaupause für die späteren Theorien zur Demokratie gilt Athen aber nur in Bezug auf die Entscheidungsfindung und die Teilung der Gewalten. Schon bei den Formen bürgerlicher Beteiligungsrechte litt Athen unter der Einschränkung, dass es sich um eine Sklavenhaltergesellschaft handelte. Letztere fanden in dem Modell schlichtweg nicht statt, was historisch erklärbar ist, aber eine wesentliche Überlegung hinsichtliche moderner Metropolen schlichtweg ausblendet. Gerade der Umgang mit dem Massenphänomen der Migration, welches in unseren Tagen die großen Städte herausfordert, entscheidet über die Entwicklung der Kommune in hohem Maße. Athen war die Macht der Bürger und wie sie sich konstituierte. Athen ist das formale Modell für Entscheidungsprozesse des Bürgertums unter Laborbedingungen. Heute existiert diese Art von Labor nicht mehr.

London galt als die Weltmetropole des 18. Jahrhunderts, Paris als die des 19. Jahrhunderts, Berlin spiele diese Rolle zumindest kulturell in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts und wurde seinerseits abgelöst durch New York. Heute, im 21. Jahrhundert existiert auch das nicht mehr. Genannte Metropolen spielen immer noch eine Rolle, Wachstumschampions sind aber Städte wie Jakarta, Rio de Janeiro, Shanghai oder Istanbul. Die letzt genannten würden mit ihrer Dynamik die Stadtplaner in den erst genannten in den Freitod treiben. Dennoch funktionieren sie und es muss im weiteren gefragt werden, warum. Die Kommunen unserer Tage haben nicht die Zeit, so könnte man meinen, sich Gedanken über das theoretische Gerüst zu machen, die das Zusammenleben beschreiben. Stattdessen werden sie umschrieben mit Begriffen wie Chaos, Anarchie, Korruption, Kriminalität, ungezügeltem Wachstum, Umweltkatastrophen und Gewalt. Zumeist gelten sie als unregierbar, es sei denn, sie werden beherrscht von einer politischen Macht, die ihrerseits mit Gewalt den Dampf im Kessel zu halten sucht.

Festzuhalten ist jedoch die Tatsache, dass die modernen Großstädte und Metropolen trotz der großen Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, weiter existieren und weiter wachsen. Diejenigen, die kommen, sehen immer noch in ihnen eine bessere Perspektive als sie dort herrschte, wo sie vorher waren. Und zumeist haben sie sogar Recht. Dennoch stellt sich die Frage, welches Prinzip die Städte der Gegenwart am Leben hält und wieso es einigen gelingt, sich zu neuen Modellen zu entwickeln und andere sich Bildern nähern, die dem der Hölle auf Erden entsprechen. Fortsetzung folgt!

The Eagle flies on Sunday

In der Branche heißt es, alles was zählt, sind Titel. Das stimmt nur bedingt, ist aber auch nicht falsch. Titel haben die Aura, dass sie in die Annalen eingehen. Deutschland ist zum vierten Mal Fußballweltmeister. Chapeau! Das ist für die Annalen, daran wird sich nichts ändern. Was von den Spielen allerdings übrig bleibt, wenn nach zehn oder zwanzig Jahren darüber berichtet wird, das sind nur bestimmte Szenen. Die prägen das kollektive Gedächtnis. 1954 war es der Schuss von Helmut Rahn und der Radiokommentator, der diesen begleitete, 1974 war es der Elfmeter von Paul Breitner und das Siegtor von Gerd Müller, 1990 der Elfer von Andreas Brehme und die Tränen des Weltfußballers Maradona, und heute? Im berüchtigten Maracana, unterhalb des Corcovado in Rio de Janeiro, da war es natürlich das alles entscheidende Tor von Mario Götze.

Was aber mehr beeindruckte als dieses wunderbar herausgespielte und von Götze grandios vollendete Tor waren zwei weitere Ereignisse, über die zumindest die, die es erlebt haben, ewig sprechen werden. Es war der wohl letzte Einsatz von Miroslav Klose, der rackerte wie ein Tier, der gefährlich blieb bis zum Schluss und der mit seinen 36 Jahren noch einmal die Welt beeindruckte. Der polnische Immigrant, der in der Pfalz in der Regionalliga begann und heute noch die Fans im fernen Rom verzaubert, holte sich in seinem letzten Spiel noch den WM-Titel. Ein großartiger Sportler hat die große Bühne für immer verlassen und als er ausgewechselt wurde, bekam er stehenden Applaus. Der beste WM-Schütze aller Zeiten verließ das Feld.

Und da war noch Bastian Scheinsteiger, der, wie manche andere wusste, dass es wahrscheinlich auch seine letzte WM sein würde, legte sein ganzes Leben in dieses Spiel. Als die argentinische Mannschaft entschied, ihn durch böse Fouls aus dem Spiel zu nehmen, agierte er wie ein Boxer aus dem Ghetto. Er wusste, wenn nicht heute, dann nie. Immer wieder stand er auf, vom Schmerz gezeichnet, zuletzt mit einer klaffenden Wunde im Gesicht deutete er an, dass er diesen Kampf nicht verlieren würde. Er hat ihn gewonnen und gezeigt, wie so etwas geht. Das wird hängen bleiben, das hat das Zeug zur Legende.

Über den Teamgeist, über die wissenschaftliche Unterstützung, über das große Kontingent der Spitzenfußballer, auf die Löw aufgrund einer im letzten Jahrzehnt statt gefundenen Aufbauarbeit zurückgreifen konnte, auf all das wurde zu Recht verwiesen. Was zudem gegen einen Gegner wie Argentinien fehlte, war eine Leistungsbereitschaft, die über die Grenze ging. Sie war da, und der Titel ist die verdiente Ernte.

Wir wären keine Deutschen, wenn wir nicht noch das Mittel der Kritik suchen würden. Das werden wir tun. Es gibt viel zu sagen über die FIFA und die Medien, über Korruption und Ressentiment. Und es wird eine Stimmung aufkommen, die auf diesen Titel verweisen und die Notwendigkeit der Veränderung leugnen wird. Doch das wird Morgen sein. Noch fahren die vielen Fans durch die Straßen und von überall aus der Welt treffen Glückwünsche ein. Ein Freund schrieb mir gerade aus Los Angeles und frühere Kollegen aus Jakarta feiern, weil Deutschland Fußballweltmeister ist. So etwas sollten wir genießen. Es ist ein schöner Moment. Der Weg war schwer, der Gegner im Finale großartig und die Mannschaft hat den Titel verdient. Zollen wir ihnen Respekt, genauso wie dem vom Fußball besessenen Land Brasilien. Das Licht geht jetzt aus. Morgen ist ein langer, arbeitsreicher Tag. Wir sind hier in Deutschland!

Der König ist tot!

Wer sich sicher war, wie die WM verlaufen würde, der ist bereits enttäuscht worden. Denn vieles, was prognostiziert wurde, traf bis dato nicht ein. Das trifft auf die politischen Entwicklungen ebenso zu wie auf die sportlichen. So wie es scheint, bringt die WM in Brasilien selbst zum ersten Mal nach langer Zeit so etwas wie einen Dialog zwischen Regierung und Straßenopposition zustande, was immer wieder durchsetzt wird durch Rückschläge, aber immerhin. Und beim Fußball ist bis jetzt nur eine Prognose eingetroffen, die viele formuliert hatten: Die amerikanischen Mannschaften spielen eine dominante Rolle beim Turnier auf dem eigenen Kontinent. Dass dieses an einer besseren Verträglichkeit des Klimas liegt, wie es hier so gerne kolportiert wird, scheint allerdings ein Weihnachtsmärchen im Juni zu sein.

Das Duell zwischen Brasilien und Mexiko war in vielerlei Hinsicht lehrreich. Zum einen zeigte es, dass kein Favorit irgendwo das Privileg bekommt, im Spaziergang weiter zu kommen. Zum anderen wurde dem europäischen Beobachter deutlich, dass auf dem Kontinent des Machismo dieser noch in voller Blüte steht. Bei dem gesamten Spiel, das reiner Kampf, war lief ununterbrochen die Testosteronpumpe. Eleganz, technische Brillanz, ästhetische Genialität, viele Attribute, mit denen der brasilianische Fußball in der Vergangenheit betitelt worden war, kamen nicht zur Geltung, weil Gegner Mexiko den Kampf seines Lebens kämpfte und klein, aber erhobenen Hauptes die Arena des maskulinen Überlebenskampfes wieder verließ.

Die Niederländer, die so furios den amtierenden Weltmeister Spanien düpiert hatten, mussten schon im zweiten Spiel gegen Australien lernen, wie bissig die Underdogs auch diesmal daher kommen und wie wenig sie bereit sind, sich mit ihrer Komparsenrolle zufrieden zu geben. Außerdem ging es für sie bereits um alles, was sie freilich verloren, weil das gegenwärtige niederländische Team zweierlei Tugenden aufweist, die miteinander korrespondieren: Kampfkraft und Athletik pur sowie technische Brillanz. Dagegen sind wenig Kräuter gewachsen.

Und dann der Königsmord! Chile, ausgerechnet Chile, das Land, in dem in der Vergangenheit soviel Tränen fließen mussten, betrat die Arena in Rio de Janeiro und exekutierte mit einer fulminanten, beherzten und trotzdem herzlosen Vorstellung den amtierenden Weltmeister. Die Spanier, seit einem Jahrzehnt mit ihrem System des Tiki-Taka das Maß aller Dinge, hatten nicht den Hauch einer Chance. Weltstars liefen chilenischen Legionären, die in der walisischen Provinz ein besseres Klempnergehalt verdienen hinterher wie verschmähte Liebhaber, die auf ihre funkelnden Ringe an faltigen Händen verweisen. Es war herzlos, es war brachial und es zeigte wieder einmal in aller Deutlichkeit, wie schnell plötzlich alles anders ist, wenn herrschende Systeme ihren Zenit überschritten haben: sie implodieren regelrecht, was weder die niederländische noch die chilenische Leistung in der Bewertung schmälern soll.

Und da deuten sich vielleicht auch schon die ersten Lehren an. Der momentan erfolgreiche Fußball setzt auf Kampf und Geschwindigkeit und nicht auf Geduld und Technik, so wie es die spanische Epoche ausmachte. Das ist, nach dem von vielen Plagiatoren des Tiki-Taka praktizierten Usus ein nervenaufreibendes und dennoch langweiliges Hin-und-Her-Geschiebe, eine erfrischende Entwicklung. Dass der Club Bayern München sich mit seinem Trainer Pep Guardiola die Lizenz auf dieses Auslaufmodell gesichert hat, wird auch noch ein interessantes Kapitel beschreiben, ist hier aber nicht von großem Interesse. Momentan zählt nur eines: Der König ist tot und die schönen Töchter Amerikas sind noch auf der Suche nach einem neuen.