Schlagwort-Archive: Reichtum

Eine Busladung beherrscht die halbe Welt

Die Meldung kam daher wie eine sekundäre Lokalnachricht. So, als sei im Bistum Münster, im fernen Hoetmar, eine neue Sakristei eingeweiht worden, ratterte die Nachricht durch den Ticker, dass 62 Individuen reicher seien als die restliche Hälfte der Weltbevölkerung. Ja, richtig gehört, 62 Menschen sind reicher als über vier Milliarden andere zusammen. Und so, wie die neue Sakristei in Hoetmar im kollektiven Bewusstsein versickert wäre, wie vieles, was es in die Schlagzeilen schafft, so versickerte auch diese Nachricht. Eine Nachricht, die mehr sozialen Sprengstoff in sich birgt als alles andere, was dazu dienen könnte, auf die Notwendigkeit radikaler Veränderungen hinzuweisen.

Die Qualität, die sich hinter dieser Kontur von Besitzverhältnissen offenbart, ist neu. Weder Monarchien noch Diktaturen waren in der Lage, die Menschheit aufgrund des Besitzes derartig zu spalten. Das, was die Epoche des Finanzkapitalismus an Besitzverhältnissen produziert hat, sprengt heute, im Jahr 2016, alles, was noch vor wenigen Jahrzehnten denkbar gewesen wäre. Und Lenins Schrift vom Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus erscheint aus heutiger Sicht als eine Empörungsschrift gegen relativ beschauliche und sozial verträgliche Verhältnisse. Übrigens, auch Orwells 1984 liest sich heute ähnlich, die kontrollierende Macht des Staates dort, als Schreckensvision inszeniert, mutet aus der Jetzt-Perspektive nahezu an wie die gute, alte Zeit.

Aber wenn sich eine Busladung Menschen über den halben Globus erhebt und sich zumindest hunderte Millionen Menschen in den Teilen der Welt, in denen sich die Gattung historisch Gedanken gemacht hat über die Konstitution einer gerechten Gesellschaft, nicht zumindest mental dagegen erheben, dann riecht es nach Fäule. Keine Putsch, kein Staatsstreich und keine Revolution vermochten bis dato Verhältnisse zu schaffen wie die existierenden. Die Interessen dieser einen Busladung bestimmen das Geschehen, sie investieren und lassen verrotten, sie blasen zu Kriegen und verheeren die Natur, sie zerstören Lebensbedingungen und schaffen Ungerechtigkeit.

Die Gesellschaften, die die Modernisierung voran getrieben haben, die für sich verbuchen können, an dem harten, aber glücksbringenden Brot der Aufklärung geknabbert und Verfassungen geschaffen zu haben, die Grundrechte und Freiheiten wie gesellschaftliche Pflichten verbriefen, die sogar das Recht auf Glück eines jeden garantieren, diese Gesellschaften nehmen im Moment die Auflösung all dessen durch die Realität zur Kenntnis wie eine lokale Petitesse. Der Aufschrei, der kommen müsste, bleibt aus.

Aufklärung, schrieb Immanuel Kant, Aufklärung ist das Heraustreten des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Und unmündig ist der Mensch, wenn er es zulässt, sich bevormunden zu lassen. Das Aufbegehren gegen Verhältnisse, die entmündigen, ist die Geburtsstunde der Aufklärung. Und Besitzverhältnisse sind die sicherste Grundlage für alle Arten der Bevormundung.

Die Akzeptanz einer Busladung von Besitzenden, die mehr in Händen halten als vier Milliarden andere, ist die Gegenzeichnung einer Kapitulationserklärung in Sachen Aufklärung. Die Reaktion der medialen Öffentlichkeit meldet den Vollzug dieser Kapitulation. Angesichts der fortgesetzten Verheerungen, die diese Besitzverhältnisse produzieren, ist allerdings sehr sicher, dass die Revolte gegen den Monopolismus erneut erfolgen wird. Er wäre kein Zeichen der Zerstörung, sondern ganz im Gegenteil, ein Lebenszeichen der Zivilisation. Alles, was an heutiger Lebensfreude noch existiert, ist dem Umstand des Zivilisationsprozesses, der aus der Aufklärung hervorging, zu verdanken. Und alles, was den zivilisierten Menschen unserer Tage erzürnt, entstammt dem Beuteverhalten einer Busladung von Individuen. Noch einmal Kant: Aufklärung ist das Heraustreten des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.

Hoffnung Brasilien

Die Sätze gleichen sich. Jedes Mal. Zu jedem sportlichen Großereignis internationalen Charakters, vor allem zu Olympiaden und Fußballweltmeisterschaften, starten die Medien ihre Kampagnen. Sie sollen der Bevölkerung die Länder näher bringen, in denen die Wettkämpfe ausgetragen werden. Eine ganze Armada von Journalisten, Produzenten und Analysten bereist diese fremden Orte, um mit Kommentaren, Dokumentationen, politischen Statements oder feuilletonistischer Episodik heimzukehren und uns alle irgendwie heimzusuchen. Denn, betrachtet man diese Feldzüge, mit Information hat das in der Regel wenig zu tun, mit Respekt gar nichts, mit einem imperialen Überlegenheitserguss sehr viel.

Mal werden Länder regelrecht geschreddert, wie China bei der Olympiade oder kürzlich Russland, oder sie werden total gehypt, wie damals Australien, das wohl rassistischste und weißeste Land der Welt, oder man erhebt sich, wenn die von der dortigen Bevölkerung ausgehende Sympathie erdrückend ist, über sie wie bei einem Zoobesuch. Insgesamt folgen diese Sottisen der post-journalistischen Periode dem Konzepte des ungleichen Vergleichs. Wir sind der Mittelpunkt der Welt und alles, was von unseren Standards, Gewohnheiten und Regeln abweicht, geht zivilisatorisch eigentlich gar nicht. Man wird den Eindruck nicht los, dass die Freude an Vielfalt im Keime erstickt werden soll.

Brasilien ist ein aufregendes Land. Es hat eine abenteuerliche Geschichte, in der immer der Drang nach Zivilisation, nach Entdeckung und Ausprobieren mit der wilden Natur, dem Unbezwingbaren, dem Nicht-Normierbaren kollidierte. Das hat zu den Schmerzen geführt, die die Nationenbildung dieses eigenen Kontinents birgt. Und das hat alle, wirklich alle, die in diesem Land sozialisiert wurden, zu großen Patrioten gemacht. Das ist eine Emotion, die man wahr nehmen muss, wenn man über dieses Land berichtet, und die von den meisten nicht einmal bemerkt wird.

Der Sozialist und Gewerkschaftsführer Lula da Silva, der Tintenfisch, wie er liebevoll vom Volk genannt wurde, der selbst aus den Favelas stammte und es zum Präsidenten schaffte, war derjenige, der durch seine Politik Brasilien zu einem gigantischen Sprung ins 21. Jahrhundert verhalf. Er schuf Infrastruktur, Rechtssicherheit und berufliche Bildung. Die Produktivkraftentwicklung Brasiliens manifestiert sich in dem Kürzel der BRIC-Staaten, Brasilien, Russland, Indien und China. Der Reichtum, der in den letzten 20 Jahren in Brasilien angehäuft wurde, ist immens und bietet ungeheure Chancen. Und das, was momentan als Unruhen aus einem Land der Ungerechtigkeiten beschrieben wird, sind Verteilungskämpfe um den neuen Reichtum.

Die Underdogs wollen jetzt etwas abhaben von dem großen Kuchen, der nun auf dem Tisch steht und ohne Fortschritt gar nicht existieren würde. Zu Recht geht es jetzt um Teilhabe in Form guter Gehälter, guter Bildung, vernünftiger Wohnung und passender medizinischer Versorgung. Aber ein Land, das sich für einen von Wirkungsindikatoren gesteuerten Haushalt entschieden hat, wird diese Justierungen ins Auge fassen. Die Proteste erinnern die jetzige Regierung daran, dass es höchste Zeit ist, dieses zu tun. Diesen Kontext als eine Situation zu beschreiben, in der typischerweise eine Regierung es nicht hinbekommt, geht so ziemlich treffsicher am Sachverhalt vorbei. Es geht um soziale Gerechtigkeit in einem überaus dynamischen und, wenn der Terminus bemüht werden darf, fortschrittlichen Land. Da hilft die Selbstgerechtigkeit der Betrachtung von einem Plateau der Stagnation gar nichts. Sie ist eher beschämend. Es wäre angebracht, dem wahrscheinlich momentan dynamischsten Land der westlichen Hemisphäre mehr Sympathie entgegenzubringen. Brasilien und die dort lebenden Menschen sind eine große Hoffnung. Nicht nur für sich, auch und gerade für uns.

Zweck und Wert

Kennst du deine Feinde, kennst du dich selbst, hundert Schlachten ohne Schlappe. Das Diktum der großen Strategen aus dem Reich der Mitte ist nicht nur ein Indiz dafür, dass wir es mit einem semantischen Archetypus zu tun haben, sondern es dokumentiert wieder einmal den Charme asiatischer Dialektik. Das Abschätzen von Kräften zweier miteinander streitender Parteien entscheidet darüber, welches Ziel formuliert und zu welchen Mitteln gegriffen wird. Wie weise. Und, andererseits, wie banal. Die neuzeitlichen Philosophen asiatischer Guerilla- und Befreiungskriege wie Mao Ze Dong und Ho Chi Minh griffen auf diese Weisheit zurück und waren damit erfolgreich. Auch gegen konventionelle Übermächte. Diese waren zumeist getrieben von der neuen Apotheose der technischen Machbarkeit. Sie hatten Strategien, die soziale und politische Dimensionen zur Grundlage legten, ersetzt durch den Glauben an die Technokratie. Das war fatal. Das blieb fatal, bis heute. Vielleicht handelt es sich dabei um die Tragödie des Westens schlechthin. Hatte er es doch vermocht, mit der Verwissenschaftlichung und Industrialisierung seiner Prozesse die alten Mächte dieser Erde an die Peripherie zu drängen und ungeheure Reichtümer zu schaffen, die alles erdrückten.

Im Rausch des Erfolgs blieben die sozialen und politischen Skills anscheinend auf der Strecke. Durch Technologie kann man herrschen, durch Reichtum auch. Zumindest innerhalb bestimmter Zeiträume. Doch die Perfektionierung eines Mittels wie der Dominanz eines sozialen Zustands sind keine Strategie. Beides hinterlässt ein Vakuum, das ausgefüllt werden will. Selbst oder gerade wenn man zurückgeht in die Welt der Mythen wird evident, dass menschliche Existenz nach Erklärungen für das Sein sucht, nach Mustern für den Sinn und nach Identitäten für das Zusammenleben. Das alles kann weder Konsum noch Wohlstand leisten. Und das scheint zunehmend das Defizit des so grandios daher kommenden Westens zu sein. Das große Paradigma der Demokratie, die ihrerseits sicherlich die formale Grundlage für das Florieren von Technologie und Reichtum war, ist ausgehöhlt durch eben ihre eigene Dialektik. Der Schein des Gelingens hat die Ursache desselben längst übertrumpft. Der Sinn der Demokratie ist nicht seine Degradierung zum Zweck. Technologie und Reichtum scheinen hingegen zum Sinn geworden zu seinen und die Demokratie ihr Zweck. Das kann nich gut gehen und das wird nicht gut gehen.

Das Gespenst der Systemtheorie, Niklas Luhmann, hatte trotz aller politischen Virulenzen, in denen er wirkte, zwei Termini geschaffen, die er aus dem Amalgam der Entwicklung gedeutet hatte. Er sprach von Wert- und von Zweckrationalität. Damit lag er phänomenologisch richtig. Die Vorgehensweise in den Herzländern der Technologisierung und Industrialisierung ist zu einem Absolutismus der Zweckrationalität verkommen und dominiert das Denken wie nie. Die Wertrationalität, die determiniert, warum wir was wie machen, zurückgeführt auf Grundwerte, nach denen wir operieren, ist zu einer Randexistenz geworden, die allenfalls in therapeutischen Kontexten noch eine Relevanz besitzt.

Kommen wir zurück zu dem Diktum der Strategen aus dem Reich der Mitte und Tongking. Die Verblendung, die aus dem Zweckrationalismus entstiegen ist, macht es zunehmend schwer, in Kontexten zu agieren, in denen wesentliche Bestandteile von Wertrationalität Geltung behalten haben. Ob die geteilt werden oder nicht, ist dabei irrelevant. Man muss sie nur verstehen. Bewegt man sich jedoch nicht von dem Erklärungsmuster der Zweckrationalität weg, wird man sie nicht begreifen. Es gilt zu verstehen, dass die Welt der Zweckrationalität nicht überall auf der Welt die Attraktivität besitzt wie in unseren Breitengraden. Anscheinend wird diese Einsicht verweigert. Das verheißt nichts Gutes. Viele Schlachten. Viele Schlappen.