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Ein Rebell und die belehrenden Ignoranten

Der Alltag reicht völlig aus, um sich ein Bild über die Befindlichkeit unserer Zeit machen zu können. Diese nämlich, damit keine Unklarheiten aufkommen, kann als ein großer, alles übertünchender Guss aus Ignoranz beschrieben werden. Beim Scrollen durch die News stieß ich auf ein Zitat des Schriftstellers Oskar Maria Graf, der gestern 128 Jahre alt geworden wäre und der bis heute eine literarische Wucht hinterlassen hat, die – wie sollte es anders sein in den erbärmlichen Epochen der Geschichtsvergessenheit – kaum Beachtung findet. Graf wurde in dieser Meldung zitiert mit dem Statement, dass er immer gerne provoziere, manchmal gar aus reiner Lust, um die Witzlosen und Voreingenommenen zu schockieren. 

Ich mache mir immer einen Spaß daraus, die Kommentare zu lesen, weil sie sehr viel verraten über den Zeitgeist und die Haltung vieler, die sich dort tummeln. Dabei ist mir stets klar, dass die Kommentare genauso wenig die gesellschaftliche Realität abbilden wie die offiziellen Verlautbarungen. Aber ein Teil des nicht offiziellen Zeitgeistes entdeckt man doch.

Und so meldete sich gleich ein Zeitgenosse zu Wort, der die Haltung, die Oskar Maria Grafs Zitat verrate, für eine Katastrophe hielt. Man stelle sich nur eine Schulklasse vor, so der Kommentator, die ausschließlich aus solchen Charakteren bestünde. Da wäre kein Unterricht mehr möglich. 

Ich hoffe nicht, dass sich hinter diesem Kommentar auch noch ein Lehrer verbirgt, denn das setzte der These von der allgemeinen Verdummung dann doch die Krone auf. Denn die Biographie des Rebellen Oskar Maria Graf weist solche Kleinigkeiten auf wie zwei Weltkriege, eine Revolution, Flucht und Jahrzehnte des Exils. Es handelt sich um einen Menschen, dem der Glaube an den lieben Gott in einer Backstube mit dem Lederriemen ausgetrieben wurde, der den Krieg wie die Münchner Räterepublik erlebt hat, der es wagte, einen schreiend agitierenden Hitler in Schwabing die Ateliertreppe herunterzuwerfen, der flüchten musste durch verschiedene Länder bis er in New York landete, wo er blieb, obwohl man ihn nach dem Krieg gerne zurückgeholt hätte. Er blieb bescheiden und malte sich nicht an, als Schlaubolzen denen, die das Elend vor Ort durchgemacht hatten, die Lehre von der reinen Demokratie näher zu bringen. Er lehnte Angebote aus beiden deutschen Staaten ab und bleib in New York, wo er 1967 starb. 

Das alles, sei einmal unterstellt, obwohl es nicht sicher ist, war dem Kommentator nicht bekannt. Und es gilt auch nicht, denjenigen, die die Hintergründe nicht kennen, das Wort zu verbieten.  Aber sie hätten, wenn sie wenigstens etwas gelernt hätten, Interesse an der Person wie seinem Werk zu entwickeln und sich zu informieren, um sich dann ein Urteil bilden zu können. Das hat der Kommentator nicht getan und sich insofern als ein Prototyp der belehrenden Ignoranten klassifiziert, die momentan den Raum des öffentlichen Diskurses beherrschen.

Klingen nicht, angesichts des geschilderten Falles, die Zitate der heute handelnden Politiker in den Ohren, die sich damit brüsten, sich nicht für die Geschichte zu interessieren und das Handeln internationaler Akteure aus dem eigenen, subjektiven Hier und Heute zu erklären? Sie wissen nichts und urteilen über alles. Was für ein Debakel das ist, kann jeden Tag besichtigt werden. Der Oskar, mit seinem Willen und seiner Resilienz, hat ganz andere Kaliber überstanden als diesen Konsenspädagogen aus dem post-globalen Zeitalter. 

Die Politik, die dieser Haltung entspringt, überlebt jedoch niemand, wenn sich nicht der Geist regt, den ein Oskar Maria Graf sein Leben lang pflegte: Den des Aufbegehrens, den der Provokation und den der Befreiung. 

Die Saturnalien und die Rebellion

Es ist ein altes Ritual und es hat es in sich. Die Möglichkeit, sich der sozialen Bindungen zu entledigen, in einer Spielsituation das zum Besten zu geben, was einem auf der Seele brennt. Nur einmal, für wenige Tage oder Wochen, das sein zu können, was schon immer der Wunsch war zu sein und nicht das sein zu müssen, was das Schicksal aus einem gemacht hat. Im alten Rom nannten sie diesen Ritus die Saturnalien, und Sklaven wurden zu Herren und schrien diesen ins Gesicht, was sie von ihnen hielten. Es war das große Spiel des Schicksals und eine Grundidee eines jeden Theaters. Mit den Saturnalien wurde nicht nur ein soziales Ventil geschaffen, sondern auch eine Denkfigur, ohne die die mehr als tausend Jahre später folgende Aufklärung in Europa nicht denkbar gewesen wäre.

Der Karneval, obwohl seinerseits auch immer in der strengen Logik der katholischen Mythologie von Fastenzeit vor der Wiedergeburt zu sehen, beinhaltet auch das Spiel mit den sozialen Rollen und die Autorisierung zum Widerspruch. In manchen Landstrichen wird er als akzeptierte Replik auf die napoleonische Besatzung interpretiert.

Entscheidend bei Saturnalien wie Karneval ist, aus heutiger Sicht, die Idee. Und diese Idee ist in hohem Maße bestechend, weil sie quasi ein Grundbestandteil von Religion in das reale Leben transportiert. Doch der paradiesische Zustand, der temporär suggeriert wird, beinhaltet etwas, was wiederum gar nicht religiös ist. Dieses Etwas ist die Aufforderung zur Rebellion gegen die bestehenden sozialen Rollen. In dieser Hinsicht hat die Idee der Saturnalien etwas Teuflisches an sich. Sie verleiht das Paradies zum Preis der Revolution.

Aber es geht noch weiter: Indem das Paradies zum Preis der Revolution für eine gewisse Zeit verliehen wird, nimmt das ganze Ritual wiederum den Charakter von etwas an, das das System erhält. Indem nämlich die Menschen das Angebot annehmen, zumindest einmal im Jahr das sein zu dürfen, wovon sie das ganze Jahr träumen, lernen sie zu akzeptieren, dass die Realität genau anders herum aussieht. Die Bilanz des Rituals fällt dann sehr schlicht aus, wenn an 51 Wochen die Sklaverei steht und lediglich in einer einzigen Woche das Dasein als Herr genossen werden darf.

Allein darauf reduziert wäre das Urteil also sehr schnell klar. Ein bisschen Freilauf für die Unzufriedenen und die Welt bleibt so, wie sie war. Aber auch das muss nicht so zutreffen. Denn an den Tagen der Freiheit können sich Gedanken entwickeln, die in die folgende Normalität hineinwirken und eine Tendenz erzeugen, die alles andre als das System erhaltend beschrieben werden muss. Das setzt jedoch voraus, dass der Gedanke des Rollenspiels denen bewusst ist, die die Rollen vertauschen. Laufen sie nur mit, machen sie alles nur, weil das schon immer so war, dann haben sie die kleine Chance auf eine sich anbahnende Rebellion bereits verkannt und sind zum Konservierungsmittel schlechthin geworden.

Bei der Betrachtung des karnevalistischen Treibens generell kann der Eindruck sehr schnell entstehen, dass von dem Sinn des Ritus bei den Akteuren wenig bis gar nichts präsent ist. Und da fällt auf, dass die vernetzten Metropolen rückständiger sind als das flache Land, wo der Funke der Rebellion gelegentlich noch aufflammen soll. Und dieses Fazit ist wiederum desaströs für die Gesellschaft: Wenn an den Tagen, an denen alle alles dürfen, nicht der Unmut und der Gegenentwurf durch alle Gassen pfeift, dann sind die Perspektiven nicht so rosig.

Angst und Macht

Um dem Umgang mit Autoritäten auf den Grund zu kommen, ist es sinnvoll, in der eigenen Erinnerung zu kramen. Ja, die eigene Sozialisation ist nicht selten ein guter Schlüssel zu abstrakten Begriffen. Weil sie sich im eigenen Werden als ganz konkrete Erscheinungen manifestieren. Bei mir waren es neben meinem Vater bestimmte Lehrer. Im Gegensatz zu ersterem, der zwar streng sein konnte, aber nie ungerecht war, waren bestimmte Lehrer ein ganz anderes Kaliber. Diejenigen, die wir mochten und von denen wir etwas gelernt haben, überzeugten durch ihr unprätentiöses Verhalten, durch einen Blick auf unsere Sorgen und unsere Bedürfnisse. Und diejenigen, die bis heute als Autoritäten in Erinnerung geblieben sind, waren nicht selten üble Tyrannen, die es genossen, Macht auszuüben, völlig gleich, was sie damit bewirkten. Es war der Gestus allein, der sie berauschte.

Was diese Autoritäten nicht sahen, war ihre Wirkung. Natürlich flößten sie Furcht ein und natürlich verursachten sie Schmerzen. Aber sie trieben uns auch dahin, wohin sie uns gar nicht haben wollten. Irgendwann waren wir an dem Punkt, an dem wir uns überlegten, was wir tun mussten, um ihnen das Handwerk zu legen oder ihren Fängen zu entgleiten. Aus Sicht der Tyrannen war so etwas das größte Kapitalverbrechen, dessen wir uns schuldig machen konnten. Und dennoch trieben wir, d.h. die Gruppe derer, die es einfach nicht ertrugen, unausweichlich auf diesen Punkt zu. Der Punkt hieß Rebellion oder Ausbruch.

Und so, als wohnte diesem Prozess der Ent-Terrorisierung etwas Mystisches inne, rochen die Tyrannen geradezu den beginnenden Verlust ihrer Autorität. Ihr Misstrauen wuchs genau denen gegenüber, die sich im bis dahin heimlichen Widerstand am meisten profilierten. Und so, als verströmten sie eine Aura der Zersetzung, versuchten sie, die heranreifenden Rebellen noch einmal durch besondere Schikanen zu demoralisieren. Aber es half nicht. Ganz im Gegenteil, für jeden Schlag ins Gesicht, für jede Strafe, für jede Demütigung wuchs eine Kraft, die die Überzeugung der Notwendigkeit des Aufbegehrens stärkte. 

So infantil diese Erfahrungen auch waren, so sehr lehrten sie bereits über den Charakter jener Autorität, die nicht aus einer Kompetenz, sondern der Macht alleine resultiert und die so sehr verstört. Die Macht an sich übt auf der einen Seite eine sehr hohe Anziehungskraft auf jene aus, die entweder immer zu schwach sein werden, sich mit dieser Macht zu messen oder die nicht von ihrem destruktiven Charakter per se bedrängt werden. Das Gespür für das Unbändige, Destruktive, führt zu einer nahezu sexuellen Aufwallung bei jenen, die sich lediglich an der Peripherie des Machtzentrums aufhalten. Diejenigen, die nicht die notwendigen Kräfte zum Widerstand mobilisieren können, werden durch ihr Wirken auf Dauer traumatisiert und sie finden nicht selten bis ans Ende ihrer Tage keine Erlösung. Das ist bitter, aber diese Erfahrung ist auch verantwortlich für die Energie derer, die sich gegen das Destruktive der Macht zu stemmen vermögen.

Wer sich im Bannkreis der Macht bewegt und darüber sinniert, gegen sie aufzubegehren, dem ist das Gefühl der Angst vertraut. Nicht nur die Enttäuschten und Mutlosen, sondern auch die Kämpferischen und Mutigen kennen die Angst aus dem FF. Doch das Verhältnis zu ihr wird geklärt in einem Urerlebnis, das nur die Durchleben, die als erstes gegen sie aufbegehren. Nur wer sich gegen sie erhebt, wird die Erfahrung sammeln, dass sie sich nicht mehr gegen ihn stellen kann. Wer einmal die Angst überwindet, der wird ihr nicht mehr begegnen.