Schlagwort-Archive: Pressefreiheit

Ein Manifest republikanischer DNA

Was hier, im benachbarten Deutschland, erst langsam durchsickerte, ist die Tatsache, dass die politische Satire in Frankreich einen anderen Stellenwert im kollektiven Bewusstsein geniesst als hier. Das kleine Magazin Charlie Hebdo war für viele Französinnen und Franzosen eine Sozialisationsinstanz. Charlie Hebdo machte vor nichts und niemanden Halt. Jede Person des öffentlichen Lebens, jede Partei, jede, jede religiöse Institution wurde Gegenstand des spöttischen Bleistifts. Hinter dieser Institution verbarg sich das Diktum Voltaires, dass ich nicht immer deiner Meinung bin, aber bis zum Ende dafür kämpfen werde, dass du sie sagen darfst. Ein befreundeter französischer Musiker, der seit Jahrzehnten in meiner Stadt lebt, brachte es auf den Punkt. Er schrieb, ihr habt mir meine Kindheit geraubt. Ich bin mit Charlie Hebdo aufgewachsen, das ist ein Teil von mir. Je suis Charlie.

Heute, am Sonntag, hatte die französische Regierung zu einem Schweigemarsch aufgerufen. Was daraufhin in Paris geschah, war eine Demonstration republikanischem Selbstbewusstseins. Obwohl die von jenseits des Rheins angereisten Journalisten partout bei ihrer redaktionellen Vorgabe blieben, von einem Trauermarsch und der großen Trauer und Angst in Paris zu sprechen, war es nicht das, was die Bilder unterlegten. Ja, Trauer und Betroffenheit war auch zusehen, aber es blieb nicht dabei.

Was die Bevölkerung von Paris mit mehr als einer Millionen Menschen demonstrierte, war eine dezidiert dokumentierte republikanische DNA. Auf Transparenten und in Interviewbeiträgen wurde alles, was sich auf eine reine Betroffenheitsgeste reduzieren läßt, die in der Passivität verharrt, in den Wind geschlagen. Die Aussagen, die aus dieser Menschenmenge kamen, waren ein Manifest für die Grundsätze der bürgerlichen Revolution. Nicht nur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden bemüht, sondern die Essenzen des bürgerlichen Rechts wurden unterstrichen. Die Menschen waren in einer selbstbewussten Stimmung und es war kein Zufall, dass es sich mehr um Aufbruchstimmung als um eine suggerierte Depression handelte. Immer wieder wurde die Marseillaise gesungen, bei der es sich um ein Kampflied aus der französischen Revolution handelt und nicht um eine romantisierende Weise eines geläuterten Patriotismus. In Paris herrschte Kampfstimmung, die dennoch nicht mit Verbitterung, sondern sogar mit Humor vorgetragen wurde.

Es ließ sich wieder einmal feststellen, dass kein Staatswesen einen tief verwurzelten Charakter hat, wenn es nicht durch einen von den Massen getragenen Akt entstanden ist. Dass dieses selbst über mehr als zweihundert Jahre nachwirkt, ist beeindruckend und unterstreicht die These. Fast hilflos standen die deutschen Reporterinnen und Reporter in der Kulisse und verstanden die Welt nicht mehr. Paris hat gezeigt, was Demokratie in ihrer Entstehungsgeschichte bedeutet. Egal, wie es um das französische Staatswesen seit Jahrzehnten bestellt ist, egal wie schwer sich die Franzosen mit Reformen tun, egal, wie störrisch sie sich im Prozess der Globalisierung verhalten, das Fundament ihres Staates steht auf soliden Füßen, weil es im Bewusstsein der Massen verhaftet ist.

Es lüde zu Vergleichen ein, aber das nähme dem Moment die hoffnungsvolle Stimmung. Dieser Sonntag in Paris hat demonstriert, welcher Weg erforderlich sein wird, um in einer Welt bestehen zu können, die immer wieder von Fundamentalismen bedroht wird. In den USA wurde nach dem 11. September 2001 der Fehler gemacht, durch drastische Einschränkung der Freiheit die Freiheit retten zu wollen. Und auch in Deutschland sind die politischen Kräfte wieder im Aufwind, die das gleiche Rezept präferieren. Das Gegenteil ist der einzige Weg, der die Chance birgt, zu einem lebenswerten Status zurückzukehren. Die Gesellschaft muss offener werden, sie muss die Demokratie leben, sie braucht Zivilcourage, sie braucht Disput und sie braucht den Konsens, der daraus erwächst. Und sie braucht die Trennung von Religion und Staat. Die Pariser Bevölkerung hat das heute in beeindruckender Weise gezeigt. Wenn ein radikales bürgerliches Bewusstsein der Maßstab ist, dann muss heute der Blick in Demut nach Westen gehen.

Formalismus und Fingerspitzengefühl

Wäre es nicht im Herzen Europas, in einem wirtschaftlich mit der ganzen Welt verwobenen Land, wäre es nicht dort, von wo die schlimmsten politischen Verbrechen der Neuzeit ausgegangen sind, dann könnte man das ganze Spektakel als eine Provinzposse abtun. Doch das Gerangel um die Zulassung türkischer Medien zu dem am 17. April vom Oberlandesgericht München angesetzten NSU-Prozess ist an totalitär anmutendem Formalismus und mangelnder politischer Sensibilität nicht zu übertreffen.

In einem Prozess, vor dem die Opferlage bereits evident ist und auf eine zu lange Liste ermordeter türkischer Mitbürger hinweist, in einem Prozess, der in starkem Maße enthüllen wird, welche katastrophale Rolle bundesrepublikanische Organe der Exekutive gespielt haben und wie fürchterlich die Unterlassungen aus den politisch verantwortlichen Stellen bei der lückenlosen Aufklärung derartiger Gewaltverbrechen waren, drängt sich angesichts der Modalitäten um die Pressezulassungen die Vermutung auf, dass man sich schämt und infantilerweise glaubt, die Wahrheit aus den türkischen Medien heraushalten zu können.

Rechtsstaatlichkeit, die nun vom Oberlandesgericht München reklamiert wird, hat im Falle der verdeckten Ermittler und V-Leute, die anscheinend direkt an Gewalttaten beteiligt waren, bei den Aufträgen seitens des Verfassungsschutzes (notabene!) keine Rolle gespielt. In diesem Kontext auf die durchaus vorhandenen Defizite in der Türkei hinzuweisen, grenzt an den einfältigen Versuch, die eigenen Handlungen mit der Schuld anderer begründen zu wollen. Und gerade ein solches Manöver deutet darauf hin, dass die mentalen Defizite hinsichtlich des Geistes von Rechtsstaatlichkeit in der Judikative sehr ausgeprägt sind.

Mit dem formalen Verweis auf das Windhundprinzip, wonach der Zeitpunkt des Akkreditierungsantrages von Pressevertretern über Zulassung und Nichtzulassung entscheidet, wird das internationale Misstrauen geschürt. Was seit dem völligen Versagen des Nestlé-Konzerns nach dem Kindersterben in Afrika nach Trockenmilchkonsum in das Einmaleins einer jeden Firmenpolitik eingegangen ist, scheint sich bei den Richtern des OLG München noch nicht herumgesprochen zu haben: Bei Unfällen, Pannen oder Straftaten kann die Reputation nur gerettet werden, wenn man seine reklamierten Prinzipien dadurch unter Beweis stellt, dass man mit einer großen Transparenz das Debakel aufarbeitet und Maßnahmen zur Verhinderung der Wiederholung kommuniziert. Nur das schafft Vertrauen, alles andere öffnet Tür und Tor zur Spekulation.

Die Unfähigkeit, rechtsstaatlich korrektes Verhalten mit einer gewissen Flexibilität und einem Auge für das angemessene zu kombinieren, zeugt von einem systemischen Problem, das das Verhältnis der Deutschen zu staatlichem Handeln sehr gut charakterisiert. Aus welchen Motiven auch immer gesteuert, zumeist sind es Angst und Unsicherheit, sprich mangelnde Souveränität, klammert man sich an Vorschrift oder Formalie und verweist die Notwendigkeiten des zivilen und politischen Lebens aus dem Raum legitimen Handelns.

Als hätte jemand, um das Dilemma der Deutschen zu illustrieren, einen Fall gesucht, so wirken Figuren und Argumente bei der Zulassung bzw. Nicht-Zulassung türkischer Journalisten zum NSU-Prozess. Anstatt die Veranstaltung als eine Chance zu sehen, die man ergreifen muss, um die letztendliche Dominanz der Rechtsstaatlichkeit zu illustrieren und für die Vorzüge einer Demokratie zu werben, die durch Transparenz, Toleranz und Offenheit besticht, versucht man die Exzesse der Intoleranz aus dem öffentlichen Diskurs fernzuhalten. Hier könnte man Stärke beweisen, und zwar in einem aufklärerischen, freiheitlichen Sinn. Stattdessen kleinkarierter Formalismus, beamtenmäßige Betulichkeit und kommunikative Unbeholfenheit. Wieder einmal sind Akten und Apparate wichtiger als Menschen und ihre Bedürfnisse. Wer aus der Geschichte lernt, ist selber schuld!