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Einhalten!

Es ist schon kurios. Nach einer Abstimmung, die zwei Optionen zuließ, scheinen sich zumindest alle, die in der Konstruktion EU eine offizielle Rolle spielen, völlig überrascht darüber zu sein, dass die Möglichkeit, die auch zur Abstimmung stand und den Austritt Großbritanniens parat hielt, mit einem eindeutigen Votum gezogen wurde. Das lässt den Schluss zu, dass das, was nicht sein darf, auch nicht entschieden werden hätte können. So kann es aber gehen, und so ist es gekommen. Nun, da offiziell ist, was viele nicht wahrhaben wollten, sind die, die immer mit schnellen Erklärungen bei der Hand sind, an der vordersten Kommunikationsfront und konkurrieren mit Szenarien darüber, wie schlimm es Großbritannien ergehen wird, wie furchtbar die Wählerinnen und Wähler dem Rechtspopulismus auf den Leim gegangen sind und wie nun erst recht der bisherige Kurs weitergefahren werden soll. Gelernt scheinen sie nichts zu haben, dafür scheinen sie auch nicht engagiert zu sein.

Ja, es gibt berechtigte Zweifel an der Art und Weise, wie Großbritannien sich in den letzten Jahrzehnten definiert hat, wie es seine Wirtschaft ruiniert hat und wie es umgegangen ist mit Herausforderungen, die ein internationaler Standort, der im globalen Kommunikationsprozess steht, annehmen muss. Zukunftsweisend ist weder der dortige, bis zum Exzess getriebene Wirtschaftsliberalismus noch ein Isolationismus, der im übrigen ganz und gar nicht britisch ist. Gesiegt hat aber eine Skepsis, deren Wurzeln auch in dem zu finden ist, wie sich die EU vor allem in der letzten Dekade generiert hat.

Die EU hat sich in starkem Maße nicht nur den wirtschaftlichen Export auf die Fahne geschrieben, von dem vor allem auch die Bundesrepublik Deutschland profitiert hat, sondern sie hat sich zu einer Instanz entwickelt, die sich mehr und mehr zu einer gigantischen, zentralistisch operierenden Planungsbehörde entwickelt hat, die nicht nur ihre Bürokraten auf alle existierenden nationalen Besonderheiten gejagt hat, sondern auch immer mehr Geld eingesammelt und zentralistisch wieder verteilt hat. Überschaubar war und ist das für viele nicht mehr, und eine Logik, bis auf die eines Lobbyismus, ist darin auch nicht zu erkennen. Dass ein Land, in dem der Liberalismus, und zwar im positiven Sinne, wie in Großbritannien zuhause ist, da so langsam die Geduld verliert, ist nicht sonderlich überraschend.

Nun, da in Großbritannien die Entscheidung gefallen ist, kann auch ein Dominoeffekt eintreten. Die Niederlande und Frankreich wären potente Kandidaten, um sich des riesigen Apparates zu entledigen, die Republiken im Süden, die als Sanierungsfälle in Privatisierungsexzesse getrieben wurden, hätten noch mehr Grund, sich aus der EU zu verabschieden.

Der Verweis auf die jubelnden Nationalisten vor allem in Frankreich und Deutschland ruft eine Duplizität hervor, die die gleichen Gefahren birgt, wie die Handhabung des Anschwellens der neuen Rechten im nationalen Maßstab. Wird erkannt, dass das britische Votum eine Reaktion auf die gegenwärtige EU-Politik ist, dann besteht die Chance, von dem verhängnisvollen Weg einer zentralistischen, intransparent arbeitenden Giga-Bürokratie abzudrehen und den Versuch einer Neudefinition zu wagen. Das bereits kursierende Rezept, die Nationalisten nun mit mehr Vehemenz zu bekämpfen, lässt jedoch die Diagnose zu, die Fehler bei anderen und nicht in der eigenen Politik zu suchen. Aber Technokraten zu erklären, dass Wahrnehmen und Zuhören zuweilen Tugenden und keine Schwächen sind, ist vielleicht zu viel verlangt. Sie begreifen es einfach nicht. Das lässt nur den Schluss zu, wieder politisch zu denken und die technokratischen Ansätze zu verbannen. Hoffnung ist immer. Ob sie berechtigt ist, wird sich zeigen.

Wenn es existenziell wird

Im alten Rom pflegten die Väter ihre Söhne, wenn sie sich dem Metier der Politik widmen wollten, ein eine einfache Frage zu stellen: Weißt du, wofür es sich lohnt zu leben und, weißt du auch, wofür es sich lohnt zu sterben? Die Doppelfrage hatte es in sich, dennoch war sie klug in einer Zeit, in der immer viel auf dem Spiel stand. Heute, im post-heroischen Zeitalter, scheint es absurd zu sein, eine solche Frage zu stellen. Dennoch sei angeraten, sie, jede und jeder für sich, einmal im stillen Kämmerchen für sich zu beantworten. Denn eine besondere Qualität birgt diese Frage auch heute noch. In Zeiten des Umbruchs und großen Wandels sollten die Akteure wissen, wofür es sich zu leben lohnt und wofür eben nicht. Es muss ja nicht immer der Heldentod am Ende stehen.

Sicher ist, dass alles, was momentan auf die Welt herunterbricht, dafür spricht, dass wir in Zeiten großer Veränderungen leben. Diese Veränderungen werden vieles von dem, das bis heute als sicher gegeben galt, in eine Erinnerung aus der Vergangenheit verbannen und vieles, das für die Zukunft als wahrscheinlich galt, als Trugschluss entlarven. Ein solcher Umstand ist historisch nicht neu. Immer, wenn große Umbrüche bevorstanden, zerbröselten die Gewissheiten zu Staub und Ungeahntes bahnte sich seinen Weg, ohne dass die Gesellschaft der Vergangenheit dem hätte etwas entgegensetzen können.

Die Menschen, die sich an der Schwelle zu neuen Ordnungen befinden, tendieren in der Regel zum Festhalten an dem, was bekannt ist. Es scheint ein Axiom der Existenz zu sein. Gesellschaften, die diesen Kurs versuchten starr und uneinsichtig durchzuhalten, gingen zumeist unter oder sie erkannten sich hinterher nicht mehr wieder. Und spätestens mit dieser Erkenntnis sollte die Frage aus dem alten Rom noch einmal aufflammen. Was ist es, dass diejenigen, die heute noch als Akteure firmieren, als ihr Lebensprogramm formulieren würden? Was ist das Erbe, das zumindest in der Zukunft noch irgendwo dokumentiert werden soll? Worin bestand der Sinn und mit welchen Qualitäten war man in der Lage, die Nachkommenden auszustatten?

Wenn es existenziell wird, wird es kompliziert. Zu viele lieb gewonnene Utensilien des Lebens rücken in den Mittelpunkt, obwohl deutlich ist, dass sie nichts an Zukunft gewähren. Vielleicht ist die Diskussion in unseren Tagen so verlogen, weil nichts mehr übrig geblieben ist von dem, was Bestand haben könnte. Das Easy Existing, das Dahinpletschern im Belanglosen hat sich in das Zentrum der Existenz geschoben und so etwas wie einen Sinn erstickt. Es wird deutlich, dass eine Gesellschaft, die einen Konsens über das soziale Programm des Zusammenlebens verloren hat, nicht mehr in der Lage ist, die Frage nach dem existenziellen Willen zu beantworten. Sie ist vom Subjekt zum Objekt mutiert und hat keine positive Prognose mehr.

Insofern ist es ratsam, die Kolporteure einer jeden politischen Programmatik in diesen Tagen mit der Frage nach dem Existenziellen zu konfrontieren. Das geht allerdings nur, wenn die Fragestellung auch im Privaten, Individuellen etabliert ist. Sonst stellt sich das Ganze Manöver als ein brüchiger Schein heraus, wie auch viele der Programme, um die es geht. Wenn es existenziell wird, geht es um Grundsätzliches. Letzteres entscheidet über die Zukunft. Im Privaten wie im Gemeinwesen. Alles andere entpuppt sich als vergeudete Lebenszeit.

Der Souverän, die Kolportage und die Hysterie

Es handelt sich längst nicht mehr um ein Grundrauschen. Es ist zum Orkan geworden. Das viel beschworene Netz hat sich zu einem Fokus etabliert, in dem die Volksseele oder das, wofür sie gehalten wird, brennt. Im Sekundentakt poppen Meldungen über schreckliche Geschehnisse auf. Dort ein Raub, hier eine sexuelle Belästigung, dort eine Pöbelei und hier eine Sachbeschädigung. Es reicht das Hörensagen, zuweilen auch die eigene Phantasie. Nicht, dass Delikte gegen die öffentliche Sicherheit nicht verfolgt und geahndet werden müssen, aber der Wahrheitsgehalt ist bis auf wenige Fälle nie verbürgt. Keine Recherche, keine Nachfrage, keine Sicherung der Information. Es reicht ein Hinweis, woher auch immer. Und es ist klar: Dahinter stecken in der Regel die Flüchtlinge. Sie sind zur Plage unserer Tage geworden, soviel Gewissheit muss sein.

Kein Wunder, dass eine ganze Klasse von Politikern ihre Stunde, die sonst nie angebrochen wäre, gekommen sieht. Auch sie vergeuden keine Zeit damit, die Recherche abzuwarten. Nein, sie überbieten sich damit, Drakonisches zu fordern, an Verurteilung, an Aufrüstung und an Konsequenz. Bei genauer Betrachtung derjenigen, die sich auf diesem Feld am meisten profilieren, fällt auf, dass es sich um diejenigen handelt, die noch nie dadurch auf sich aufmerksam gemacht hätten, dass sie Politik gestalten. In vielerlei Hinsicht handelt es sich um diejenigen, denen eine positive Phantasie für die Zukunft fehlt. Sie wussten schon immer sehr genau, was gefährlich und nicht zu tun ist, sie haben immer gewarnt, nur vorgeschlagen, wie etwas im positiven Sinne geformt werden kann, das haben sie noch nie.

Die Bevölkerung ist hin und her gerissen. Am schlimmsten trifft es die Teile, die all dem, was kolportiert wird, Glauben schenken. Sie sind verunsichert und blicken Hilfe suchend um sich und warten auf eine schnelle Lösung im Urwald der Phantasmagorien. Und die Teile, die an dem Schützenfest der Kolportage zweifeln, die darauf hinweisen, dass es immer notwendig ist, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich die Folgen vorgeschlagener Reaktionen genau zu überlegen, die finden sich sehr schnell wieder auf der Anklagebank der selbst ernannten Volksgerichtshöfe, die in ihren Worten nicht mehr weit entfernt sind von dem historischen Vergleich. Ihre Begriffswelt ist das Indiz schlechthin für ihre Absichten. Sie stehen in keiner Relation mehr zu dem Ansinnen eines demokratischen Gemeinwesens, sie desavouieren sich mit jedem Satz.

Der Begriff Terror steht für den Umstand, Angst und Schrecken zu verbreiten. Das ist die Stoßrichtung der Kolportagehysterie. Sie erzeugt Ängste, sie verbreitet Schrecken. Politiker, die sich dabei profilieren, haben die Legitimation verloren und ihr Handeln ist durch nichts zu entschuldigen. Auch und gerade nicht durch den Rausch, den demoskopische Erhebungen bei Ihnen zu erzeugen vermögen.

Eine Krise, die dadurch zustande kommt, dass die Befindlichkeit des Gemeinwesens nicht auf sie eingestellt ist, kann nur dadurch gelöst werden, dass eine vernünftige, besonnene Politik sich mit den Notwendigkeiten auseinandersetzt, das Gemeinwesen zu befähigen, mit diesen Erscheinungen klar zu kommen, ohne zu riskieren, die Gesellschaft dabei zu spalten und gravierende Verwerfungen in Kauf zu nehmen. Und das Volk, diese abstrakte Größe, die dennoch in all ihrer Vielschichtigkeit existiert, hat die Aufgabe, die Qualität von Politik danach zu beurteilen. Auch das erfordert einen kühlen Kopf. Der Preis für das Nachgeben der Vernunft gegenüber der Hysterie ist hoch. Ein Souverän, der die Besonnenheit verliert, hat seine Souveränität verwirkt.