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Fundstück: Der Moralist als Wurzel der Diktatur

11. Januar 2009

Oskar Maria Graf hatte vieles erlebt: Gezwungen zu einer Bäckerlehre in Oberbayern, Flucht nach München, Bekanntschaft mit Erich Mühsam und Frank Jung, Rekrutierung in den I. Weltkrieg an die Ostfront, Nervenzusammenbruch, ein Jahr Aufenthalt in der Nervenheilanstalt, Teilnahme an der Münchner Räterepublik, Avancement zu einem der meist gelesenen Schriftsteller der Weimarer Republik, nach seinem Aufruf „Verbrennt mich!“ Exil in Österreich und der Tschechoslowakei und schließlich 1938 Übersiedlung nach New York, wo er bis zu seinem Tod 1967 blieb.

Seine Romane, die in der Tradition der mündlichen Erzählkunst standen, aber ansonsten mit allen Dogmen brachen, an denen sich die deutsche Gesellschaft abarbeitete und die diese letztendlich in das Desaster des Faschismus geführt hatten, in diesen Romanen schlug Graf mit seinem Epatez le Bourgois den saturierten Gralshütern des Kommunismus, der Religion und der monothematischen Staatslehre Mensuren, die ihm niemals verziehen wurden. Graf blieb sich treu und fristete in New York über Jahrzehnte ein Dasein jenseits des Rampenlichts und Wohlstands.

In seinem über einhundert Seiten langen Essay „Der Moralist als Wurzel der Diktatur. Eine geistespolitische Betrachtung“, den er zwischen September und Weihnachten 1951 in New York verfasst hatte, zog er, der Erzähler, in einem ihm fremden Genre Bilanz. Was er dabei zustande brachte, hat nicht nur in der Retrospektive eine markante Bedeutung, sondern gewinnt angesichts der abstrusen Logik der political correctness und der etablierten Denkfiguren politischer Diskurse unserer Tage eine brisante Aktualität.

Auch den Essay beginnt Graf mit der Schilderung von Begebenheiten, die er in verschiedenen Phasen der von ihm erlebten Zeitgeschichte immer wieder erleben musste: Das Erheben des moralischen Zeigefingers, das Formulieren einer wertrationalen Apotheose, das Herausarbeiten einer ethisch puristischen Maxime und die gleichzeitige Diskriminierung derer, die der synthetischen Lehre in ihrer Lebenspraxis nicht folgten.

Oskar Maria Graf enthüllt die scheinbar moralische Attitüde der reinen Lehre, weil sie selbst diejenigen, die sie fordern und entwickeln, von der Verantwortung der Aufklärung befreit. Ein Mensch, der frei sein will, ein Mensch der dieses nicht auf Kosten anderer erreichen will, dieser Mensch hat die Aufgabe, sich selbst zu verantworten, diszipliniert und konsequent zu sein. Wie bei Sartres „Das Sein und das Nichts“ definiert Graf das Sein als etwas zu Leistendes und die Propheten der reinen Lehre, die selbst weit von einem Vorbild des verantwortungsvollen Seins entfernt sind, die demaskiert er als die eigentlichen Obskurantisten. Ihr Wirken ist der Keim diktatorischer Phantasien, denen die Reglementierung der Individuen nach den normativen Werten einer Lehre widerfahren soll, die keiner bereit ist, zu leben.

Das Fazit aus der großen Katastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts ist für Graf so einfach wie bestechend. Er bringt das einzelne Individuum erneut in die Verantwortung. Dadurch versucht er, die große Idee der Aufklärung zu vitalisieren, dass es das Werk des Einzelnen ist, die selbst verschuldete Unmündigkeit abzuschütteln. Und all jene, die so liebreizend locken mit der moralischen Unversehrtheit, die letztendlich ein Staat oder sonstiges repressives Gebilde garantieren sollen, denen weist er bestechend einfach nach, dass sie es sind, die den Diktaturen das Wort reden.

Fundstück: Oskar Maria Graf. Der Moralist als Wurzel der Diktatur

11. Januar 2009

Oskar Maria Graf hatte vieles erlebt: Gezwungen zu einer Bäckerlehre in Oberbayern, Flucht nach München, Bekanntschaft mit Erich Mühsam und Frank Jung, Rekrutierung in den I. Weltkrieg an die Ostfront, Nervenzusammenbruch, ein Jahr Aufenthalt in der Nervenheilanstalt, Teilnahme an der Münchner Räterepublik, Avancement zu einem der meist gelesenen Schriftsteller der Weimarer Republik, nach seinem Aufruf „Verbrennt mich!“ Exil in Österreich und der Tschechoslowakei und schließlich 1938 Übersiedlung nach New York, wo er bis zu seinem Tod 1967 blieb.

Seine Romane, die in der Tradition der mündlichen Erzählkunst standen, aber ansonsten mit allen Dogmen brachen, an denen sich die deutsche Gesellschaft abarbeitete und die diese letztendlich in das Desaster des Faschismus geführt hatten, in diesen Romanen schlug Graf mit seinem Epatez le Bourgois den saturierten Gralshütern des Kommunismus, der Religion und der monothematischen Staatslehre Mensuren, die ihm niemals verziehen wurden. Graf blieb sich treu und fristete in New York über Jahrzehnte ein Dasein jenseits des Rampenlichts und Wohlstands.

In seinem über einhundert Seiten langen Essay „Der Moralist als Wurzel der Diktatur. Eine geistespolitische Betrachtung“, den er zwischen September und Weihnachten 1951 in New York verfasst hatte, zog er, der Erzähler, in einem ihm fremden Genre Bilanz. Was er dabei zustande brachte, hat nicht nur in der Retrospektive eine markante Bedeutung, sondern gewinnt angesichts der abstrusen Logik der political correctness und der etablierten Denkfiguren politischer Diskurse unserer Tage eine brisante Aktualität.

Auch den Essay beginnt Graf mit der Schilderung von Begebenheiten, die er in verschiedenen Phasen der von ihm erlebten Zeitgeschichte immer wieder erleben musste: Das Erheben des moralischen Zeigefingers, das Formulieren einer wertrationalen Apotheose, das Herausarbeiten einer ethisch puristischen Maxime und die gleichzeitige Diskriminierung derer, die der synthetischen Lehre in ihrer Lebenspraxis nicht folgten.

Oskar Maria Graf enthüllt die scheinbar moralische Attitüde der reinen Lehre, weil sie selbst diejenigen, die sie fordern und entwickeln, von der Verantwortung der Aufklärung befreit. Ein Mensch, der frei sein will, ein Mensch der dieses nicht auf Kosten anderer erreichen will, dieser Mensch hat die Aufgabe, sich selbst zu verantworten, diszipliniert und konsequent zu sein. Wie bei Sartres „Das Sein und das Nichts“ definiert Graf das Sein als etwas zu Leistendes und die Propheten der reinen Lehre, die selbst weit von einem Vorbild des verantwortungsvollen Seins entfernt sind, die demaskiert er als die eigentlichen Obskurantisten. Ihr Wirken ist der Keim diktatorischer Phantasien, denen die Reglementierung der Individuen nach den normativen Werten einer Lehre widerfahren soll, die keiner bereit ist, zu leben.

Das Fazit aus der großen Katastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts ist für Graf so einfach wie bestechend. Er bringt das einzelne Individuum erneut in die Verantwortung. Dadurch versucht er, die große Idee der Aufklärung zu vitalisieren, dass es das Werk des Einzelnen ist, die selbst verschuldete Unmündigkeit abzuschütteln. Und all jene, die so liebreizend locken mit der moralischen Unversehrtheit, die letztendlich ein Staat oder sonstiges repressives Gebilde garantieren sollen, denen weist er bestechend einfach nach, dass sie es sind, die den Diktaturen das Wort reden.

Ein Rebell und die belehrenden Ignoranten

Der Alltag reicht völlig aus, um sich ein Bild über die Befindlichkeit unserer Zeit machen zu können. Diese nämlich, damit keine Unklarheiten aufkommen, kann als ein großer, alles übertünchender Guss aus Ignoranz beschrieben werden. Beim Scrollen durch die News stieß ich auf ein Zitat des Schriftstellers Oskar Maria Graf, der gestern 128 Jahre alt geworden wäre und der bis heute eine literarische Wucht hinterlassen hat, die – wie sollte es anders sein in den erbärmlichen Epochen der Geschichtsvergessenheit – kaum Beachtung findet. Graf wurde in dieser Meldung zitiert mit dem Statement, dass er immer gerne provoziere, manchmal gar aus reiner Lust, um die Witzlosen und Voreingenommenen zu schockieren. 

Ich mache mir immer einen Spaß daraus, die Kommentare zu lesen, weil sie sehr viel verraten über den Zeitgeist und die Haltung vieler, die sich dort tummeln. Dabei ist mir stets klar, dass die Kommentare genauso wenig die gesellschaftliche Realität abbilden wie die offiziellen Verlautbarungen. Aber ein Teil des nicht offiziellen Zeitgeistes entdeckt man doch.

Und so meldete sich gleich ein Zeitgenosse zu Wort, der die Haltung, die Oskar Maria Grafs Zitat verrate, für eine Katastrophe hielt. Man stelle sich nur eine Schulklasse vor, so der Kommentator, die ausschließlich aus solchen Charakteren bestünde. Da wäre kein Unterricht mehr möglich. 

Ich hoffe nicht, dass sich hinter diesem Kommentar auch noch ein Lehrer verbirgt, denn das setzte der These von der allgemeinen Verdummung dann doch die Krone auf. Denn die Biographie des Rebellen Oskar Maria Graf weist solche Kleinigkeiten auf wie zwei Weltkriege, eine Revolution, Flucht und Jahrzehnte des Exils. Es handelt sich um einen Menschen, dem der Glaube an den lieben Gott in einer Backstube mit dem Lederriemen ausgetrieben wurde, der den Krieg wie die Münchner Räterepublik erlebt hat, der es wagte, einen schreiend agitierenden Hitler in Schwabing die Ateliertreppe herunterzuwerfen, der flüchten musste durch verschiedene Länder bis er in New York landete, wo er blieb, obwohl man ihn nach dem Krieg gerne zurückgeholt hätte. Er blieb bescheiden und malte sich nicht an, als Schlaubolzen denen, die das Elend vor Ort durchgemacht hatten, die Lehre von der reinen Demokratie näher zu bringen. Er lehnte Angebote aus beiden deutschen Staaten ab und bleib in New York, wo er 1967 starb. 

Das alles, sei einmal unterstellt, obwohl es nicht sicher ist, war dem Kommentator nicht bekannt. Und es gilt auch nicht, denjenigen, die die Hintergründe nicht kennen, das Wort zu verbieten.  Aber sie hätten, wenn sie wenigstens etwas gelernt hätten, Interesse an der Person wie seinem Werk zu entwickeln und sich zu informieren, um sich dann ein Urteil bilden zu können. Das hat der Kommentator nicht getan und sich insofern als ein Prototyp der belehrenden Ignoranten klassifiziert, die momentan den Raum des öffentlichen Diskurses beherrschen.

Klingen nicht, angesichts des geschilderten Falles, die Zitate der heute handelnden Politiker in den Ohren, die sich damit brüsten, sich nicht für die Geschichte zu interessieren und das Handeln internationaler Akteure aus dem eigenen, subjektiven Hier und Heute zu erklären? Sie wissen nichts und urteilen über alles. Was für ein Debakel das ist, kann jeden Tag besichtigt werden. Der Oskar, mit seinem Willen und seiner Resilienz, hat ganz andere Kaliber überstanden als diesen Konsenspädagogen aus dem post-globalen Zeitalter. 

Die Politik, die dieser Haltung entspringt, überlebt jedoch niemand, wenn sich nicht der Geist regt, den ein Oskar Maria Graf sein Leben lang pflegte: Den des Aufbegehrens, den der Provokation und den der Befreiung.